Rolf Dörig ist Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes und Präsident der Verwaltungsräte der Adecco-Gruppe und von Swiss Life. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 18. Mai 2018 publiziert einen Gastkommentar von Rolf Dörig. Ein EU-Rahmenabkommen dürfe nicht um jeden Preis abgeschlossen werden.
«Abkommen mit EU - nicht um jeden Preis»
Rolf Dörig
Ich begrüsse den Willen des Bundesrats, die Verhandlungen mit der EU zur Sicherung der Bilateralen weiterzuführen. Eine Carte blanche jedoch erteilen die Privatversicherer nicht. Lieber kein Resultat oder ein gutes später als ein schlechtes sofort. Die Verhandlungen mit der EU stehen nicht unter Zeitdruck – und sie dürfen auch nicht unter Zeitdruck geführt werden. Wir haben heute schon einen massgeschneiderten Marktzugang, das gilt für die meisten Branchen; die Versicherungswirtschaft braucht kein zusätzliches Finanzdienstleistungsabkommen. Und ein Rahmenabkommen könnte von ihr nur mitgetragen werden, wenn wichtige gesamtschweizerische Interessen deutlich dafür sprechen würden.
Auch mit Blick auf die europäische Gesamtlage könnten durch Zuwarten neue politische Spielräume entstehen, was der Schweiz entgegenkäme. Ist der Brexit vollzogen, hat die EU möglicherweise wieder mehr Handlungsspielraum. Auch Grossbritannien will ein wirtschaftlich starkes und sicheres Europa ohne politischen Überbau. Und die EU selber steht auch unter Druck, eine Strategie zu definieren und mehr echte Subsidiarität zuzulassen. Die Personenfreizügigkeit ist auch innerhalb der EU ein Thema und zwingt sie zu mehr Flexibilität.
Die Schweiz ist an einem wirtschaftlich starken Europa interessiert. Die EU begreift sich jedoch zunehmend als politisches Projekt. Die Gegensätze auch innerhalb von Europa werden grösser, nicht kleiner. Es geht nicht nur um Wirtschaft und Marktzugänge, es geht um unsere Gesellschaft und damit um das Fundament unseres Landes. Um zentrale Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, direkte Demokratie und Föderalismus. In diesen heiklen Bereichen haben wir nicht nur ein paar dünne rote Linien, sondern doppelte rote Sicherheitslinien.
In der innenpolitischen Debatte gibt es jene, die so tun, als habe die Brüskierung Brüssels keinen wirtschaftlichen Preis. Auf der anderen Seite gibt es jene, die so tun, als habe ein Rahmenabkommen keinen politischen Preis. Beide liegen falsch. In der öffentlichen Debatte scheint mir allerdings, dass der mögliche wirtschaftliche Preis übertrieben dargestellt und der politische Preis unterschätzt beziehungsweise kleingeredet wird. Der frühere freisinnige Bundesrat Kaspar Villiger hat zu Recht geschrieben, eine Willensnation wie die Schweiz müsse auch wirklich wollen. Es gibt zwei Dinge, die wir unbedingt wollen. Sie machen meines Erachtens unseren Willen aus, eine Nation zu sein. Warum sind Deutschschweizer nicht Deutsche, Romands nicht Franzosen und Tessiner nicht Italiener? Weil wir alle wissen, dass wir in dieser Willensnation zwei Vorteile geniessen: mehr persönliche Freiheit und mehr politische Mit- und Selbstbestimmung. Ein Rahmenabkommen, das durch die Übernahme von EU-Regulierung diese Freiheit und diese Mit- und Selbstbestimmung auch nur teilweise beschränkt, rüttelt am Existenzgrund dieses Landes.
Persönliche Freiheit und politische Mitbestimmung können wir uns aber nur erhalten, wenn wir uns eine Eigenständigkeit leisten: Ich will eine Schweiz, die auch in Zukunft weniger reguliert und deshalb weltweit wettbewerbsfähiger ist; eine Schweiz der Chancen und Ideen – und der Unternehmer, der Investoren, die diese Ideen ermöglichen und umsetzen. Das ist das Merkmal einer offenen Schweiz und nicht die Personenfreizügigkeit mit der EU. Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Solidarität, Vertrauen, direkte Demokratie und Föderalismus sind das Fundament unserer einmaligen Stabilität.
Wenn wir sehen, wo die Zukunft der Weltwirtschaft liegt, müssen wir unseren aussenwirtschaftlichen Fokus noch mehr als bisher erweitern, über Europa hinaus. Jedes zusätzliche Freihandelsabkommen eröffnet neue Chancen – und macht uns etwas weniger abhängig vom Binnenmarkt der EU. Denkbar ist auch der Abschluss von Verträgen mit Drittstaaten, in denen viel Wirtschaft und wenig Politik drin ist. Die EU hat zum Beispiel mit Kanada ein solches Abkommen (Ceta) abgeschlossen, das weit über ursprüngliche Freihandelsverträge hinausgeht. Es enthält die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsprüfungen, den Zugang zum öffentlichen Beschaffungswesen und einen Mechanismus zur Weiterentwicklung des Rechts durch gegenseitige Notifizierung statt durch einseitigen Nachvollzug. Dies alles ohne Personenfreizügigkeit und ohne Streitbeilegung unter Einbeziehung des EU-Gerichtshofes. Es ist ein wirtschaftliches Abkommen ohne politischen Überbau.
Nicht nur als Bürger, auch als Wirtschaftsvertreter meine ich: Wir müssen nicht um jeden Preis zu einem Rahmenabkommen mit der EU gelangen. Wir sind ein Partner auf Augenhöhe. Ich wünsche dem Bundesrat, dass er mutig ist. Ich bin überzeugt, dass ihn das Volk dafür belohnt.
Rolf Dörig ist Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes und Präsident der Verwaltungsräte der Adecco-Gruppe und von Swiss Life. Der Text basiert auf einer Rede des Autors anlässlich der EDA-Botschafterkonferenz vom 2. Mai 2018.