Beitrag von THILO SARRAZIN in der Weltwoche: Im Wettbewerb der Nationen entscheidet nicht die Grösse eines Staates, sondern die Qualität.
Nach 48 Jahren Mitgliedschaft in der EU und einem chaotischen Ablösungsprozess, der sich über viereinhalb Jahre hinzog, ist Grossbritannien mit Beginn dieses Jahres auch aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion ausgeschieden. Die Tonlage der Kommentare in den deutschen Medien lässt sich zusammenfassen mit «Sie werden schon sehen, was sie davon haben.» Wer den Brexit verstehen will, sollte einen Blick in die britische Geschichte tun. Er wird dann über seinen Sinn und seine Erfolgsaussichten vorsichtiger urteilen. Der erste Versuch der europäischen Politik, in Britannien Fuss zu fassen, war die 400 Jahre währende Herrschaft des Römischen Reiches. Ausser einigen Münzfunden und wenigen Fundamentresten römischer Mauern ist davon nichts verblieben. Die römischen Legionen zogen sich aufs Festland zurück, als die Angeln, Sachsen und Jüten die Küsten stürmten und die keltische Bevölkerung nach Norden und Westen abdrängten. Später kamen die Wikinger aus Dänemark und Norwegen und sorgten immer wieder für Unruhe. 1066 dann besiegten die Normannen aus dem nahen Frankreich das Heer des sächsischen Königs. Eine winzige Herrenschicht unterwarf sich das ganze Land und riss sämtlichen Besitz an sich. Seitdem hat 900 Jahre lang bis zum 1972 erfolgten EU-Beitritt nie wieder eine kontinentale Macht britischen Boden betreten und dort Herrschaft ausgeübt. Für mengenweises Blutvergiessen auf ihrer Insel sorgten die Briten ganz alleine. Davon zeugen Shakespeares Königsdramen.
Die einzige fremde Macht, die in England am Ausgang des Mittelalters Einfluss ausübte, war die katholische Kirche. Unter dem Tudor-König Heinrich VIII. fand auch das ein Ende: Die Kirche von England wurde 1532 dem König unterstellt. Aber dieser Konflikt spaltete das Land weitaus mehr als heute der Brexit, denn das Volk war kirchentreu. Er dauerte viele Jahrzehnte, führte Tausende auf den Scheiterhaufen und brachte zwei Lordkanzler aufs Schafott. Auch die Macht des Königs war dem englischen Adel und später dem aufstrebenden Bürgertum immer wieder ein Dorn im Auge. Schon 1215 trotzte der Adel dem schwachen König Johann Ohneland mit der Magna Carta Libertatum grundlegende politische Freiheiten ab. Der Stuart-König Karl I. musste 1649 nach einem verlorenen Machtkampf mit dem Parlament aufs Schafott. Schliesslich stärkte die Glorious Revolution 1689 die Rolle des Parlaments gegenüber dem König, der seitdem in seinem Amtseid ausdrücklich die parlamentarischen Rechte anerkennen muss. Nun brauchte es noch 200 Jahre kontinuierlicher Reformen, bis die Rolle des britischen Königs auf die des obersten Notars seiner Nation beschnitten war. Über dem britischen Parlament aber gibt es keine Macht ausser der des britischen Volkes und der unabhängigen Gerichte, und das liebt die Mehrheit der Briten. Die Briten waren immer ein kleines Volk: Um 1800
«In der modernen globalisierten Welt entscheidet nicht die Grösse eines Staates über seine Stellung im Wettbewerb der Nationen, sondern die Qualität seiner Institutionen und Gesetze sowie die Bildung und der Fleiss seiner Bevölkerung.»
lebten in Grossbritannien rund 11 Millionen Menschen, halb so viele wie in Deutschland und nur ein Drittel der Bevölkerung von Frankreich. Trotz seiner Kleinheit war es zeitweilig die führende Kolonial-, See- und Handelsmacht. Und es war Meister darin, mit minimalem Auf wand maximale Wirkung zu erzielen. Immer, wenn die Zeit gekommen war, verstand es das machtbewusste Grossbritannien auch, rechtzeitig loszulassen: 1783 die amerikanischen Kolonien, 1922 Irland und 1947 die Kronkolonie Indien mit ihren über 400 Millionen Einwohnern. Dieses kleine Volk brachte einen Isaac Newton, einen Charles Darwin, die Philosophen der schottischen Aufklärung, die geistigen Väter der kapitalistischen Wirtschaftsweise und mit James Watt den Erfinder der Dampfmaschine hervor. Es wurde zur Wiege der modernen Industriegesellschaft. All das schaffte es ohne einen Europäischen Gerichtshof und ohne Vorgaben und Vorschriften europäischer Behörden aus Brüssel. Auch in der EU ohne Grossbritannien wird Englisch die Lingua franca bleiben. Das insulare Grossbritannien hat sich niemals geistig abgeschottet. Das ist auch in Zukunft nicht zu befürchten. Der in Deutschland entwickelte Corona-Impfstoff der deutschen Firma Biontec wurde in Grossbritannien schneller eingesetzt als in der schwerfälligen EU. Grossbritannien kann künftig selber darüber entscheiden, wen es in seinen Grenzen aufnehmen möchte und nach welchen Regeln es politisches Asyl gewährt. Es kann selber darüber entscheiden, in welchem Umfang und auf welchen Wegen es den CO2-Ausstoss seiner Volkswirtschaft senken will. In der modernen globalisierten Welt entscheidet nicht die Grösse eines Staates über seine Stellung im Wettbewerb der Nationen, sondern die Qualität seiner Institutionen und Gesetze sowie die Bildung und der Fleiss seiner Bevölkerung.
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