Sinngemässe Zusammenfassung der Rede:
Thilo Sarrazin, Volkswirtschaftler und Autor (u.a. «Deutschland schafft sich ab»), zeigte sich in seiner Rede als sorgfältiger, präziser Beobachter.
Seine ehemalige Partei (SPD), das präzise Denken nicht mehr pflegend, fand keine Argumente mehr gegen seine Kritik, die auf eine interne Reform gezielt hat. Die SPD hatte im Sommer 2020 also nur noch eine Lösung: die «Exkommunikation» Sarrazins.
Nachfolgend Aussagen der Rede Sarrazins — nicht als wörrtliche Zitate zu verstehen. Hören Sie sich die ganze Rede im Video an.
«Mit der Familie fuhren wir in den Weihnachtsferien oft ins Wallis. Als Jugendlicher in Bellwald, als es noch kein Internet gab, las ich eben den ‹Walliser Boten›. So lernte ich die Schweiz kennen, oder sagen wir mal das Oberwallis der 1960-er Jahre.»
Schon damals hätten ihn die Mehrsprachigkeit, das Verhältnis Staat–Kirche, das Verhältnis Stadt–Land beeindruckt. Auch das Verhältnis der Schweiz zum Ausland sei klar – gemäss Friedrich Schiller: «Es kann der frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.» Ohne Wehrhaftigkeit, das wisse die Schweiz, gäbe es keine Souveränität.
«Die Schweizer haben es geschafft, trotz hoher Unterschiedlichkeit der Landesteile und unterschiedlicher Sprachen, friedlich zusammenzuleben. Das sollten sich mal die Engländer, Schotten, Waliser zum Vorbild nehmen.»
Die politische Diskussion werde in der Schweiz bis zum Ende geführt. Es sei eben doch besser, spät zu entscheiden als falsch zu entscheiden. «Das ist eine der vielen vorbildlichen Eigenschaften der Schweiz.»
«Auch, dass die Schweizer bei ihrer eigenen Währung bleibt, hält sie frisch und fit, was ja auch am Weltmarkt sichtbar wird.» Hingegen Deutschland, gefangen im Euro, liefere heute viel zu billig ans Ausland. «Die Schweiz hat auch dank der eigenen Währung ihre Souveräntät bis heute behalten.»
Sarrazin, ganz der scharfe Denker, lässt sich nicht zu emotionellen Hochgesängen auf zuviel vermeintlich vorbildliche Eigenleistungen der Schweiz hinreissen. «Hätte der historische Zufall die Schweiz, sagen wir mal, ins Gebiet des heutigen Belgiens gesetzt, wäre das Schweizer Modell nicht so stark geworden. Jedes Land entwickelt sich so, wie es sich in seinem geografischen Umfeld eben befindet.» Man möge also auch davon Abstand nehmen, sein eigenes Staatsmodell als allgemein gültig anzusehen und es anderen Nationen aufdrücken zu wollen.
Sarrazin zitiert dazu Goethe – es gelte auch für den Weg der Staaten: «Ach, was soll der Mensch verlangen? Ist es besser, ruhig bleiben? Klammernd fest sich anzuhangen? Ist es besser, sich zu treiben? Soll er sich ein Häuschen bauen? Soll er unter Zelten leben? Soll er auf die Felsen trauen? Selbst die festen Felsen beben. — Eines schickt sich nicht für alle! Sehe jeder, wie er’s treibe, Sehe jeder, wo er bleibe, Und wer steht, dass er nicht falle!»
Interessant waren auch die Beobachtungen Sarrazins zu einem wichtigen Teil der europäischen Geschichte – zur Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg. «Wenn Deutschland gewisse diplomatische Aktionen vor Kriegsbeginn taktisch klug veranlasst hätte, hätte der Erste Weltkrieg nicht stattgefunden. Somit auch nicht der Zweite Weltkrieg. Auch ein Gefreiter aus Oesterreich (gemeint ist Adolf Hitler) hätte seinen Weg so nicht machen können.»
Das sei zwar nur seine «kontrafaktische Geschichtsschreibung», so Sarrazin, es zeige aber: Wenn sich Länder nicht in Angelegenheiten anderer Länder einmischen würden, gäbe es weniger schlimme Folgen. Deutschland sei leider immer geplagt worden duch «Anfälle von Grössenwahn.»
Sarrazin holte auch breit aus in der Geschichte des Zusammenwachsens der europäischen Länder. Eine rein wirtschaftliche Erleichterung oder der Abbau von Zollschranken sei gut. Brüssel habe aber immer mehr Entscheidungsgewalt zu sich gezogen, immer mehr sei es ein ungesunder Zentralismus, immer lauter würden also auch die Misstöne. «Nach dem Fall der Mauer verfolgten die osteuropäischen Länder andere Ziele als die der Westen. Auch Themen wie die Klimadiskussion werden in der EU sehr unterschiedlich diskutiert. Dann kommt da noch der Austritt Grossbritanniens. Die Briten wollen über ihrem Parlament nicht noch eine höhere Ebene der Entscheidungsfindung – sie fanden also den Brexit als Lösung. Alle andern wollen nun wissen, dass der Brexit den Briten schade. Derzeit sieht es nicht so aus aus – das ist aber gar nicht relevant. Relevant ist – und für die EU störend: Nun gibt es ein weiteres Nicht-EU-Land als Messgrösse, an dem sich die EU messen lassen muss: Neben der Schweiz auch Grossbritannien.»
«Lassen wir doch den Wettbewerb unter den Staaten entscheiden. Lassen wir es nicht zu, dass sich Kleine von Grossen erdrücken lassen.»