Wenn sich Binnenmärkte nicht abschotten, sind sie keine Gefahr für das Ziel eines freien Welthandels.
Interview mit Botschafter Remigi Winzap, lic. iur., Leiter der Ständigen Mission der Schweiz bei der WTO und EFTA in Genf.
Sehr geehrter Herr Botschafter: Was ist die WTO?
Die WTO (World Trade Organization) ist eine internationale Organisation. Die 160 Mitglieder der WTO sind Länder (Schweiz, USA, China usw.) und Zollgebiete (z.B. EU, Taiwan, Hongkong). In der WTO werden Regeln festgelegt, welche den weltweiten Handel von Gütern und Dienstleistungen erleichtern und die Mitglieder vor dem Hochziehen von protektionistischen Barrieren durch andere Mitglieder schützen. In der WTO werden Lösungen für anstehende Handelsprobleme gesucht. Das Einhalten der vereinbarten Handelsregeln wird überprüft und WTO-regelwidriges Verhalten kann im Rahmen eines WTO-Streitschlichtungsverfahrens eingeklagt und gegenüber allen Mitgliedern rechtsverbindlich durchgesetzt werden. Die WTO ist auch ein Forum für die Weiterentwicklung bestehender und die Verhandlung neuer Verträge im Bereich des Welthandelsrechts. Die WTO-Regeln tragen massgeblich zum Schutz von Ländern wie der Schweiz bei, die vom Aussenhandel und verlässlichen Handelsregeln abhängig sind.
Es ist still geworden um die WTO. Ist die Welthandelsorganisation mit Sitz in Genf ein Auslaufmodell?
Die WTO ist kein Auslaufmodell. Die WTO ist und bleibt das einzige multilaterale Forum für Handelsfragen mit einer nahezu universellen Mitgliedschaft. Es schützt unsere Exporteure täglich vor Willkür im Handel. Das WTO-Recht bildet auch die Grundlage für alle weltweit abgeschlossenen Freihandelsabkommen, die auf dem WTO-Recht aufbauen. Mit dem Abschluss eines Abkommens über Erleichterungen für den Handel bei der Überquerung von Zollgrenzen anlässlich der letzten WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2013 wurde der Beweis erbracht, dass es weiterhin möglich ist, auf multilateraler Ebene Lösungen zu finden. Auf dem Erfolg vom Dezember 2013 aufbauend wurden seit Anfang 2014 die Arbeiten zum Abschluss der seit 2011 stillstehenden Doha-Runde wieder aufgenommen. Bis Ende 2014 soll ein detaillierter Arbeitsplan erarbeitet werden, wie die Verhandlungen insbesondere in den Hauptdossiers der Doha-Runde, d.h. Landwirtschaft, Industriegüter sowie Dienstleistungen, zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können.
Wo liegen die grössten Hürden für die Weiterarbeit?
Die Interessen der WTO-Mitglieder sind vielfältig und zum Teil gegensätzlich. Die Handelsthemen werden insbesondere auch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 international noch kontroverser diskutiert als früher. Die internationale Gemeinschaft verändert sich. Das Gewicht der Entwicklungs- und insbesondere der Schwellenländer hat in den letzten Jahren in der Welt und im internationalen Handel stark zugenommen. Es ist sehr umstritten, wie diese Veränderungen in den Regeln und den Verpflichtungen in der WTO abgebildet werden sollen. Die entwickelten Länder, wie die Schweiz, möchten z.B., dass die Schwellenländer in der WTO mehr Verantwortung übernehmen.
Die AUNS sagt Ja zu einem Handel mit möglichst wenigen Hürden. Gleichzeitig lehnt sie aber aus souveränitätspolitischen Gründen (u.a. Ernährungssicherheit, Landschaftsschutz) einen Freihandel für die Landwirtschaft ab. Bis heute ist der Widerstand gegen den Agrarfreihandel weltweit stark. Kann die Landwirtschaft nicht grundsätzlich ausgeklammert werden?
Die Landwirtschaft kann weder aus der WTO noch aus den Doha-Verhandlungen ausgeklammert werden. Der Handel mit Landwirtschaftsgütern ist Teil der WTO (es gibt auch ein Landwirtschaftsabkommen in der WTO) und für die allermeisten WTO-Mitglieder – vor allem aber auch für Entwicklungsländer – ist die Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung und das Agrardossier das zentrale Dossier der Doha-Runde. Zusammen mit über 140 Ländern hat die Schweiz 2001 einem entsprechenden Verhandlungsmandat zugestimmt. In der WTO wird versucht, Verzerrungen im internationalen Agrarhandel einzudämmen. Hingegen bleiben die WTO-Mitglieder frei ihre Landwirtschaft zu unterstützen, sofern sie dies in einer Art und Weise tun, welche den internationalen Handel nicht verzerrt. Bereits aufgrund der Resultate der WTO-Uruguay-Runde konnten wichtige Reformen im Agrarbereich umgesetzt werden (wie z.B. der weltweite Umbau bei den Direktzahlungen), die diesen Sektor auch in der Schweiz insgesamt gestärkt haben.
Wie vertragen sich der EU-Binnenmarkt und geplante Freihandelsverträge unter anderem zwischen der EU und den USA mit den Zielen der WTO?
Die WTO anerkennt Freihandelsabkommen und Zollunionen. In der Regel verfolgen diese ja ähnlichen Ziele wie jene der WTO. Gewisse Bedingungen müssen jedoch eingehalten werden. So dürfen beispielsweise die Zollsätze der Vertragsparteien und die anderen Handelsregulierungen gegenüber Drittländern in solchen Vereinbarungen nicht höher sein, als es jene der Freihandels- oder Zollunionspartner vor der Bildung des Freihandelsabkommens oder der Zollunion waren. Das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA wird mit den Zielen der WTO vereinbar sein, sofern die entsprechenden Bedingungen erfüllt werden – wovon wir ausgehen.
Sind Binnenmärkte nicht eine Gefahr für das Ziel eines freien Welthandels?
Wenn sich Binnenmärkte nicht abschotten, sind sie keine Gefahr für das Ziel eines freien Welthandels. Im Gegenteil, ein effizienter und wettbewerbsfähiger Binnenmarkt führt zu einer Vereinheitlichung der Regeln im Binnenmarkt. Statt die Anforderungen von individuellen Bestimmungen einzelner Staaten zu erfüllen, genügt es, die Regeln des Binnenmarktes zu erfüllen. Im Falle der EU umfasst dieser heute 28 Mitgliedstaaten. Dies fördert den Handel und erleichtert den Zugang zu ausländischen Märkten. Insofern können Binnenmärkte einen wichtigen Beitrag zu einem liberaleren Welthandel leisten. Es sei daran erinnert, dass auch die Schaffung des Schweizer Binnenmarktes massgeblich zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Standortattraktivität der Schweiz beigetragen hat. Insofern ist das Schweizer Modell mit dem EU-Modell durchaus vergleichbar.
Also sind Binnenmärkte keine Gefahr für das Ziel eines freien Welthandels?
Nein.
Die Schweiz regelt den Zugang zum EU-Binnenmarkt mit Verträgen. Die EU stellt zunehmend Forderungen, die Schweiz müsse sich politisch stärker integrieren. So müsse neues EU-Recht automatisch-dynamisch übernommen werden und eine übergeordnete Instanz – zum Beispiel der EU-Gerichtshof (EuGH) – soll die Rechtsumsetzung in der Schweiz prüfen können. Bleibt da der Freihandel nicht auf der Strecke, wenn immer mehr politische Auflagen für den Marktzutritt gefordert werden?
Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind sehr eng, namentlich auch aufgrund der verschiedenen bilateralen Marktzugangs- und Kooperationsabkommen. Ein Freihandelsabkommen Schweiz-EU besteht seit 1972. Es ermöglicht den zollfreien Handel mit Industrieprodukten zwischen den Vertragsparteien. Die bilateralen Abkommen I und II gehen über den Industriefreihandel hinaus, indem sie zusätzliche Erleichterungen im Warenhandel sowie in verschiedenen Bereichen binnenmarktähnliche Verhältnisse geschaffen haben. Sie wurden abgeschlossen, weil den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft im Bereich des Marktzugangs mit einem Freihandelsabkommen allein nicht genügend Rechnung getragen werden kann. Es liegt im Interesse der Schweiz und der Schweizer Wirtschaft – das heisst auch: Im Interesse der einzelnen Marktteilnehmer (KMU, Unternehmer, Individuen) – im Hinblick auf einen diskriminierungsfreien Marktzugang institutionelle Mechanismen zu finden, welche eine Anpassung an die Entwicklungen des für die bilateralen Abkommen massgeblichen EU-Rechts ermöglichen (was aber nicht heisst, dass EU-Recht automatisch übernommen werden muss).
Nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gibt es ein Szenario, wonach die EU der Schweiz den Marktzugang erschweren könnte. Könnte die Schweiz die WTO um Hilfe anrufen?
Wie die Schweiz sind auch die EU sowie ihre 28-Mitgliedstaaten Mitglieder der WTO. Beide Seiten müssen sich also an die WTO-Regeln halten. Die EU als Zollunion kann jedoch in ihrer Integration weitergehen, sofern sie die erwähnten Bedingungen erfüllt. Sollte die EU der Schweiz den Marktzugang auf eine diskriminierende und WTO-widrige Weise erschweren, so könnte die Schweiz in der Tat als ultima ratio ein Streitschlichtungsverfahren in der WTO in Erwägung ziehen. Dies gilt aber nur in Bereichen, in denen WTO-Recht verletzt wurde, und nicht in Bereichen, in denen die Schweiz mit der EU einen über die WTO-Regeln hinausgehenden Marktzugang vereinbart hat. Nicht ausgeschlossen sind zudem Situationen, in denen sowohl ein bilateraler Vertrag wie auch WTO-Recht verletzt wird. Die entsprechende Vorgehensweise wäre jedoch einzelfallweise und unter Berücksichtigung anderweitiger Lösungsmöglichkeiten im Rahmen der bestehenden bilateralen Verträge mit der EU (z.B. in den relevanten Gemischten Ausschüssen) zu prüfen.
Wird die Schweiz in der WTO überhaupt gehört?
Die Schweiz ist ein sehr aktives und respektiertes WTO-Mitglied, das in der WTO Verantwortung übernimmt. Ich koordiniere eine Gruppe von Nettoagrarimporteuren (u.a. Japan, Südkorea, Norwegen, Schweiz, u.a.m.), welche in den Agrarverhandlungen defensive Positionen vertreten. Zudem koordiniere ich eine breite Ländergruppe mit Mitgliedern, die gesamthaft gesehen eher gemässigte Positionen vertreten (u.a. Neuseeland, Kanada, Costa Rica, Türkei, Thailand, Singapur, Hong Kong, Schweiz, u.a.m.). Auch leitete ich einen entscheidenden Teil der Verhandlungen über die Zollerleichterung, die Ende 2013 erfolgreich abgeschlossen wurden. Ferner führe ich den Vorsitz der Doha-Verhandlungen im Industriegüterbereich. Die Mitglieder der Schweizer Mission nehmen des Weiteren auch den Vorsitz von technischen Ausschüssen, z.B. im Bereich der Informationstechnologiegüter wahr. Die Übernahme von Verantwortung verschafft uns die Möglichkeit, die Stimme der Schweiz in den Kernverhandlungen der WTO hörbar einzubringen.
Als oberstes Ziel verfolgt die WTO den freien Welthandel. Wie sehen Sie die Zukunft des weltweiten Handels?
In der Nachkriegsperiode ist der Welthandel fast doppelt so schnell gewachsen wie die Weltproduktion selbst. Auch seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist der Welthandel im Durchschnitt schneller als die Produktion gewachsen. Man geht davon aus, dass dieser Trend weiterhin Gültigkeit haben wird. Deshalb ist es auch wichtig, dass das WTO-Regelwerk weiter modernisiert und den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden kann. Das heisst konkret, dass die Doha-Verhandlungen nun einem erfolgreichen Abschluss zugeführt werden müssen.
Sehr geehrter Herr Botschafter, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Werner Gartenmann
Position AUNS
- Grundsätzlich Ja zum weltweiten Freihandel
- Nein zum totalen Landwirtschaftsfreihandel, keine Preisgabe der Landwirtschaft: Ernährungssouveränität ist zu stärken!
- EU-Binnenmarkt: keine Mitgliedschaft! Keine Verträge um jeden Preis! Keine EU-Personenfreizügigkeit.