«Die EU ist ein Friedenswerk» steht in einem Hintergrundpapier der Fachkommission für Aussenpolitik der SP Schweiz. Nach dem Brexit-Volksentscheid sagte SP-Präsident Christian Levrat. «Der Entscheid ist ein Schock für all jene Menschen, die in die EU als ein Friedensprojekt glauben.»
2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis.
Für die Befürworter eines Beitritts der Schweiz zur EU ist das Thema Frieden ein unschlagbares Argument. Der folgende Text hinterfragt die Argumentation.
Die EU als Friedensprojekt?
Von Ralph Pöhner
Jetzt haben die Brexit-Verhandlungen begonnen, in wenigen Tagen folgt das Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs, und vermutlich werden wir auch da wieder daran erinnert, dass die Europäische Union ein grosses Friedensprojekt sei. Jedenfalls reiben uns ihre Spitzenpolitiker bei jeder festlichen Gelegenheit unter die Nase, dass diese Organisation dem Kontinent den Frieden gebracht habe.
Schön und gut. Aber wenn das wirklich das beste Argument ist für die EU, dann kann es eigentlich nicht so weit her sein damit.
Das Argument lebt von der Vergesslichkeit. Denn mit dem Palmzweig des Friedens dürfte sich zuerst einmal eine Reihe von Vorläuferorganisationen schmücken, die Montanunion, die gute alte EWG, die EG –Organisationen, die deutlich weniger umstritten waren. Vor allem aber baut der Friedensspruch auf einer arg simplen Logik. Sie besagt: Wir haben seit sieben Jahrzehnten Eintracht; Europas Staatenbund ist auch etwa so alt; also war er es, der die nötige Stabilität schuf.
Das Bild des Friedens
Eins und eins gibt zwei. Diese Grundidee verfolgt uns besonders hübsch in einer Grafik, die momentan eifrig durch die sozialen Medien getrieben wird. Da sehen wir schwarz die Jahre, in denen Europas Länder übereinander herfielen, weiss die Jahre des Friedens, und siehe da: Mit Auftauchen der Europäischen Union, dargestellt durch ein blaues Fähnlein, wird das Bild schneeweiss.
Die Grafik böte ein wunderbares Fallbeispiel, um Gymnasiasten den Unterschied von Korrelation und Kausalität zu erklären. In derselben Logik liesse sich behaupten, dass Europa seinen Frieden dem Kaugummi verdankt; denn seit der in den europäischen Läden auftauchte, schweigen die europäischen Waffen. Immerhin gibt es hier sogar ein Verbindungsstück, nämlich die Amerikaner, die mit ihrer Army, ihren Atombomben und ihrer Nato beides brachten – viel Frieden und viel Kaugummi.
Die Macht von Waterloo
Aber interessanter wird die Sache, wenn wir sie in einer noch breiteren historischen Perspektive betrachten. Nun geraten die schwarzen Streifen auf dem EU-Friedensbild ins Zentrum. Sie sagen uns, dass vor 1945 auf diesem Kontinent ein dauerndes Gemetzel und Gekriege getobt haben muss. Das passt ja auch zu den Erinnerungen aus dem Geschichtsunterricht – die alten Zeiten als Abfolge von Kriegen und Schlachten.
Vergessen geht, dass darunter meist eine andere Normalität herrschte: Auch im 18. oder im 19. Jahrhundert konnte ein Mensch in Aarhus oder Ipswich, in Innsbruck oder Zuoz ein ganzes, langes Leben verbringen, ohne je eine Armee zu sehen. Natürlich, es gab Kriege, immer wieder mal. Junge Männer zogen aus, schlugen des Adels Schlachten auf einem fernen Feld und dann, Monate später, kehrten sie wieder zurück oder auch nicht.
So wie übrigens europäische Soldaten bis heute regelmässig losziehen, in den Koreakrieg, in die Suezkrise, in den Falklandkrieg, den Golfkrieg, nach Afghanistan, Mali, Libyen oder in den Irak.
Kriege sind wie kaputte Wasserleitungen
Im kollektiven Gedächtnis blieb aber nicht das stille Leben von Aarhus bis Zuoz hängen, sondern Trafalgar und Waterloo. Unter Historikern gibt es eine Faustregel zur Anrechnung dieses Phänomens, «Tuchman’s Law», benannt nach der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman. Die hatte festgestellt: «Die Katastrophe ist selten so allgegenwärtig, wie es in den Überlieferungen erscheint. Die Tatsache, dass es aktenkundig wird, schafft den Eindruck, dass es ständig und überall geschieht. Aber mit grösserer Wahrscheinlichkeit ist das Desaster sporadischer, sowohl zeitlich wie örtlich. Andererseits ist das Normale beständiger als die Auswirkung einer Störung. Wir kennen das aus unserer eigenen Zeit. Wenn man die aktuellen Nachrichten konsumiert, erwartet man eine Welt, die vollauf aus Streiks, Verbrechen, Machtmissbrauch, kaputten Wasserleitungen, verspäteten Zügen, geschlossenen Schulen, Gaunern, Drogensüchtigen, Neonazis und Vergewaltigern besteht.»
Und so kam Tuchman schliesslich zur Einsicht: «Die Tatsache, dass darüber berichtet wird, multipliziert die wahrgenommene Bedeutung eines unseligen Ereignisses um das Fünf- bis Zehnfache (oder um eine beliebige Zahl, die der Leser selbst einsetzen kann).»
Es gibt nicht nur schwarze Balken
Wir sehen: «Tuchman’s Law» ist nicht bitter ernst gemeint. Aber es erinnert daran, dass unserer Geschichte nicht nur aus schwarzen Balken besteht, aus einem Vorher des Krieges und einem Heute der Waffenruhe.
Ob die EU ein Friedensprojekt ist, werden also auch unsere Nachkommen beurteilen. Und die werden vielleicht dereinst zurückblicken und den Kopf schütteln – ständig Kämpfe, ständig Anschläge, ständig Kleinkriege irgendwo …
[Quelle: https://blog.derbund.ch]
Ralph Pöhner studierte Geschichte und Wirtschaft in Zürich und Madrid, war Assistent am Historischen Seminar der Uni Zürich und schrieb unter anderem für «Facts», «Die Weltwoche» und «Die Zeit». Er ist Mitgründer der Branchen-Medien Medinside und Finews.