Unternehmer Hans-Jörg Bertschi gehört zu jenen Kräften, die einen besseren Deal mit der EU fordern. Seine Firma ist ein heimlicher Riese der internationalen Logistik. Von Beat Gygi und Florian Schwab in Weltwoche Nr. 1-21.
Jetzt kommt Leben in die Debatte über das Rahmenabkommen Schweiz - EU, neue Stimmen werden laut. Zweieinhalb Stunden nach der Veröffentlichung der Brexit-Lösung durch die EU am 24. Dezember war die Vereinigung Autonomiesuisse mit E-Mail und Kommentar dazu bereits an der Öffentlichkeit – samt einer neunzehnseitigen Übersichts-Analyse des Vertrags, in der Grossbritannien in 28 wichtigen Punkten als Gewinner erscheint, die EU lediglich in 11 Punkten. Moment – wer ist Autonomiesuisse? Ein ziemlich neuer Name, und gibt man ihn bei Google ein, kommt die Gegenfrage: «Meintest du Economiesuisse?» Nein, eigentlich fast das Gegenteil: nicht die EU-zugeneigte Koalition von Bundesverwaltung, Grossunternehmen und Medien, sondern Unternehmer und Vertreter der Wirtschaft, die sich dagegen wehren, die Eigenständigkeit der Schweiz durch allzu weit gehende Übernahme von EU-Recht einzuschränken.
«Fast etwas erschüttert»
Der Start wirkt dynamisch. Am 13. November traten die Unternehmer Hans-Jörg Bertschi, Martin Janssen und Hans-Peter Zehnder als Co-Präsidenten an die Öffentlichkeit, um die «Kampagne für ein besseres Rahmenabkommen» und die Organisation von Autonomiesuisse vorzustellen. Sechs Wochen später sind auf der Homepage neben dem siebzehnköpfigen Co-Präsidium, unter anderem mit Giorgio Behr oder Peter Spuhler, bereits 300 Unterstützerinnen und Unterstützer aufgeführt. Laut Bertschi ist die gesamte Mitgliederzahl einiges höher. Von den politischen Parteien ist die FDP besonders gut vertreten. Mit dem Brexit-Vertrag vor Augen will man nun die Debatte zum Rahmenabkommen Schweiz - EU auf Touren bringen. «Wenn man die Verhandlungsergebnisse Grossbritanniens und der Schweiz miteinander vergleicht, ist man fast etwas erschüttert, wie schlecht die Schweiz gegenüber der EU verhandelt hat», meint Bertschi. Mit der Brexit- Lösung sei quasi ein Schleier weggezogen worden, jetzt seien die Mängel der bundesrätlichen Vorlage schlagartig für alle deutlich sichtbar.
«Wenn man die Verhandlungsergebnisse Grossbritanniens und der Schweiz miteinander vergleicht, ist man fast etwas erschüttert, wie schlecht die Schweiz gegenüber der EU verhandelt hat.»
Die Schweiz stehe vor einer völlig neuen Situation. Es gehe jetzt nicht mehr nur um ein paar Bereinigungen, sondern darum, mindestens auch das herauszuholen, was den Briten gelungen sei. Bezeichnenderweise seien es vor allem jene Punkte, die Autonomiesuisse von Anfang an bewegt hätten: Die Briten hätten den Einbezug des EU-Gerichtshofs sowie die dynamische Rechtsübernahme vermeiden können, ebenso die Unionsbürgerrichtlinie, da sie auf die Personenfreizügigkeit verzichten wollten. Und bei Streitigkeiten könne jede Seite neben dem Schiedsgericht auch die Welthandelsorganisation (WTO) anrufen. Was war eigentlich Bertschis Motivation, sich in Sachen Rahmenvertrag zu engagieren? «Begonnen hat es damit, dass wir, ein paar Unternehmer, damals nach der Veröffentlichung des bundesrätlichen Entwurfs zusammenkamen und diskutierten, welche Folgen ein solcher Vorschlag für Schweizer Familienunternehmen haben könnte, die stark international tätig sind», sagt er im Gespräch am Firmensitz in Dürrenäsch. Das Urteil fiel ernüchternd aus: «Aus unserer Sicht brächte ein solches Rahmenabkommen mittel- bis langfristig massive Nachteile für den Standort Schweiz.» Die meisten dieser Unternehmer seien ja im EU-Raum tätig und spürten die Binnenmarktregulierung täglich am eigenen Leib. Für sie alle sei klar: Der vorgeschlagene Rahmenvertrag sei kein echt bilaterales
«Aus unserer Sicht brächte ein solches Rahmenabkommen mittel- bis langfristig massive Nachteile für den Standort Schweiz.»
Abkommen, sondern würde schrittweise zur Integration der Schweiz in die EU führen. Wirtschaftsregulierung, Sozialgesetzgebung, Wettbewerbsrecht, teilweise Steuerrecht – die Entwicklung wäre vorgegeben, vor allem auch unter dem Einfluss des EU-Gerichtshofs. Auch im Abschliessen internationaler Verträge wäre man bald nicht mehr frei. Geradezu erschrocken seien sie darüber, dass das Freihandelsabkommen von 1972 auch tangiert, angepasst und dem Rahmenvertrag unterstellt werden sollte. Bertschis Fazit: «Die Schweiz hat heute eindeutige Vorteile im globalen Wettbewerb verglichen mit der EU, und diese würden wir durch den Rahmenvertrag verlieren.» Demokratie und wirtschaftlicher Erfolg Aber man hörte doch bisher aus der Wirtschaft immer das Gegenteil: Der Rahmenvertrag sei nötig, um international fit zu bleiben. Diese Argumente
«Die Schweiz hat heute eindeutige Vorteile im globalen Wettbewerb verglichen mit der EU, und diese würden wir durch den Rahmenvertrag verlieren.»
sind Bertschis Ansicht nach geprägt durch Grosskonzerne, deren Kader meist nicht als Eigentümer in der Verantwortung stehen, naturgemäss eher kurzfristig denken, oft nicht Schweizer sind und die direkte Demokratie nicht verstehen. «Aber wenn ich die Zeitspanne über Generationen hinaus ins Auge fasse und mir vorstelle, dass wir hier in der Schweiz irgendwann gleiche Verhältnisse haben könnten wie in EU-Ländern, dann müsste ich der nächsten Generation empfehlen, das globale Geschäft von einem wirtschaftlich offeneren Standort wie etwa Singapur aus zu betreiben.» Nicht nur die direkte Demokratie, auch der wirtschaftliche Erfolg der Schweizer Unternehmen stünde auf dem Spiel. Wie sieht denn eigentlich Bertschis Geschäft aus? Die in Dürrenäsch ansässige Gruppe ist ein heimlicher Riese, spezialisiert auf Logistikdienstleistungen mit flüssigen und losen rieselförmigen Produkten für die chemische Industrie. In Europa ist sie Marktführerin im Chemietransport auf Schiene und Wasser, weltweit figuriert sie unter den Top fünf der Branche. Hans-Jörg Bertschi, heute exekutiver Verwaltungsratspräsident, hat 1989 die Geschäftsleitung des Familienunternehmens übernommen. Damals kam man mit 200 Mitarbeitern auf einen Jahresumsatz von 65 Millionen Franken. Jetzt erzielen gut 3100 Personen einen Umsatz von knapp einer Milliarde Franken. In gut 30 Jahren wurde das Unternehmen also mehr als verzehnfacht. Gegründet wurde die Firma 1956 von Bertschis Vater und dessen Bruder, wobei bereits der Grossvater mit dem Pferdefuhrwerk unterwegs war. «Die wirklichen Pioniertaten hat eigentlich mein Vater auf den Weg gebracht», sagt Bertschi. «Das war der Schritt zur Verlagerung des Transports von der Strasse auf die Schiene, der Schritt zum kombinierten Verkehr.» Damals habe es keine wintersichere Alpenquerung auf der Strasse gegeben, mit dem Lastwagen durch die Schweiz zu fahren, sei im Winter unmöglich gewesen. Mit der Bahn durch die Schweiz – das war der logische Wunsch, aber es brauchte Ausdauer und Zeit, um die SBB davon zu überzeugen. «Das war ein Start-up», sagt Bertschi, «und irgendwann hat sich die überlegene Idee durchgesetzt.» Die daraus entstehende Zusammenarbeit mit den SBB führte dann zur Gründung der Hupac (hergeleitet von Huckepack), also zum Transport von Seecontainern oder Sattelaufliegern ohne Zugfahrzeug auf Eisenbahnwagen. Fünf Aktionäre begannen mit den ersten Spezialwagen, Anfang der 1970er Jahre kamen Container dazu. Bertschis Vater baute im Aargau eine Krananlage, um Importe abzuladen, «und seit da fährt jeden Tag ein Zug von Köln in die Schweiz», meint Bertschi. Köln war der erste und ist heute immer noch ein wichtiger ausländischer Stützpunkt des Unternehmens, um Container umzuladen. So wurde das Geschäft in Europa ausgebaut. Ab dem Eintritt Bertschis 1987 kamen jedes Jahr etwa zwei oder drei Niederlassungen neu ins Netz. Dann gingen Osteuropas Märkte auf, Bertschi nutzte dies und wurde zu einem führenden Akteur im kombinierten Verkehr auf Europas West-Ost-Achse. Anschliessend kamen Russland und die Türkei dazu. Vor zehn Jahren ergab sich eine neue Entscheidungssituation: Wie kann man sich weiter entwickeln? Nach der Finanzkrise von 2008/09 machten die angestammten Märkte einen flauen Eindruck. «In Europa sahen wir nicht mehr ein so starkes Marktwachstum wie in der Vergangenheit », meint Bertschi, und da man bereits zu den Marktführern zählte, blieb wenig Spielraum nach oben. Was tun? Das bestehende Transport-Netzwerk besser auslasten mit anderen Gütern für andere Branchen und sich auf einen Verdrängungswettbewerb einlassen – oder lieber in neue geografische Räume vorstossen?
Führend auf Europas West-Ost-Achse
Man wählte Variante zwei, und so wurde Bertschi zum globalen Unternehmen. Asien verhiess im angestammten Chemielogistik-Geschäft langfristig grosse Wachstumsmöglichkeiten. Und viele der Kunden waren weltweit tätig, so dass man ihnen quasi folgte. Aber, so Bertschi: «Die globalen Märkte funktionieren ganz anders als die europäischen, wir nahmen etliche Risiken in Kauf.» In Europa dominierten langfristige Verträge, auf dem Weltmarkt dagegen kurzfristige Geschäfte, die kulturellen Unterschiede seien gewaltig. Man investierte in 16 000 Tankcontainer für globale Verkehre, in ein Logistikzentrum in Singapur,
«Wenn von den 35 weltbesten Universitäten deren sechs in Grossbritannien und zwei in der Schweiz sind, hingegen keine in der EU – da sollte man doch sofort mit den Briten ein Abkommen schliessen, bevor das Geld wegfliesst in EU-Programme.»
expandierte in den USA und ist nun am Ausbau des Standortes in China. Gerade in der Corona-Krise war die weltweite Ausrichtung ein Vorteil, da Asien die Weltwirtschaft jetzt vorwärtszieht. Das Spiegelbild der Globalisierung zeigt sich am Hauptsitz im Aargau, wo Personen aus 25 Ländern arbeiten. Bertschis Ansicht nach muss die Schweiz unbedingt den Spielraum behalten, sich weltweit nach allen Seiten offen zu orientieren. Nach dem Brexit-Deal seien jetzt rasch Kooperationen mit Grossbritannien zu suchen, etwa in Forschung und Bildung. «Wenn von den 35 weltbesten Universitäten deren sechs in Grossbritannien und zwei in der Schweiz sind, hingegen keine in der EU – da sollte man doch sofort mit den Briten ein Abkommen schliessen, bevor das Geld wegfliesst in EU-Programme.» Statt sich Druckversuchen aus Brüssel auszusetzen, soll die Schweiz einfach ihre Flexibilität nutzen.