…soll die Frage von Kaiser Ferdinand I. gewesen sein, als das Wiener Volk im 1848 genug hatte von seiner uneingeschränkten Macht und auf die Barrikaden ging. So ähnlich reagieren die heutigen Eliten – insbesondere die, welche dauernd nach Brüssel schielen –, wenn das Stimmvolk wieder mal «falsch» abgestimmt hat.
Gerhard Schwarz, ehemaliger Redaktor und Chef von Avenir Suisse, schreibt in einem absolut lesenswerten Gastkommentar in der NZZ über diese wachsende Kluft zwischen Bevölkerung und Elite. Seine ruhige, systematische Analyse müsste Pflichtlektüre sein in jeder Beamtenstube Berns, in jeder Redaktionsstube der Schweiz und für jeden Parlamentarier.
Als Beispiele dieser Kluft nennt Schwarz: EWR, MEI, Brexit, Friedensplan Kolumbien, Trump. «Am Tag nach Wahlen und Abstimmungen reiben sie (die Eliten) sich konsterniert die Augen, wenn das Volk wieder einmal nicht <richtig> entschieden hat, und vergessen, dass das objektiv Richtige oft erst nach Jahrzehnten erkennbar wird.»
Keineswegs gibt Schwarz dem Volk immer recht: «… da Irren menschlich ist, können auch Kollektive irren. Es gibt jedoch keine Evidenz, dass die Mehrheit des Volkes öfter und gravierender irrt als die Eliten und jene, die sich zu den Eliten zählen.»
Die US-Präsidenten Nixon ebenso wie Reagan wurden von Eliten, Medien und Intellektuellen bei Amtsantritt quasi als der Weltuntergang dargestellt. Man suhlte sich in Besserwisserei und Arroganz, genau wie es in diesem Herbst eine Frau Clinton und ihre «Bubble» machte. Schwarz dazu: «Mit Beleidigungen der schweigenden Mehrheit gewinnt man keine Mehrheit.»
Es erstaunt auch dieses Erlebnis von Schwarz dann nicht: «Ein EU-Kommissar sagte mir einmal in Anwesenheit mehrerer ihm unbekannter Zuhörer: <Wissen Sie, was das Volk denkt, geht mir am A… vorbei.> »
Die politischen Eliten untergraben verbissen und zielgerichtet das Vertrauen in Volk, also ihre «raison d’être», falls man sich Demokratie nennen will. Laut Schwarz darf aber nicht sein, dass man deswegen von einer Denkzettelabstimmung zur anderen kommt, nur weil das Volk es «denen zurückzahlen» will. Denn dies könne wiederum zu unverantwortlichen Abstimmungsresultaten führen.
Die Hoffnung bleibt, dass die Elite zu Selbsterkenntnis kommt. Man stolpert dann aber über ein Wort im letzten Absatz des Kommentars. Ein Wort, das immer wieder auftaucht, wenn die Eliten versuchen, «Verständnis» zu zeigen für «die da draussen». Denn das seien die, die sich «vernachlässigt, vergessen, benachteiligt und unverstanden fühlen.»
Die fühlen sich nur so. Durch Medien, Meinungsmache, steten Tropfen-auf-den-Stein kann man das ändern, wir schaffen das. Dann fühlen sich alle besser. Und alles wird gut. Gruss von der Elite.
Mitten im Verständnis-Gerede ein Wort, das entlarvt. Zu oft nur liest man, dass sich das Volk so fühlt. Dass die Situation oft so IST, liest man kaum. Darauf scheint auch Schwarz nicht zu kommen.
NZZ, 3. Januar 2017: «Das ungebührliche Volk»