NZZ, 29. August 2018: Der SVP-Vordenker Christoph Blocher schliesst einen Handelskrieg mit der EU nicht aus. Er glaubt, dass eine Volksabstimmung über den Rahmenvertrag unerlässlich wird. Die Parteien hätten nicht den Mut, einen Abbruch der Verhandlungen zu fordern – auch die jüngst so skeptische SP nicht.
Das Gespräch führte Christina Neuhaus, NZZ
Herr Blocher, von wem ist dieses Zitat: «Die Schweiz war weder in die Weltkriege involviert, noch ist sie Mitglied der EU. Deshalb bin ich dafür, dass irgendwann alle Länder in der EU sind – ausser die Schweiz.»
Jedenfalls von jemandem, der richtig denken kann. Es könnte zum Beispiel von Alt-Botschafter Paul Widmer stammen oder vom Schriftsteller Thomas Hürlimann. Auch von Friedrich Dürrenmatt, wenn er denn noch lebte. Stammt es von einem Politiker? (Lacht.) Eigentlich könnte es von mir sein.
Gesagt hat das der linke deutsche Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi. Er sagte es an einem Fest der SP Aargau. Erstaunt Sie die Autorschaft?
Mich erstaunt eigentlich nur, dass er es erst heute merkt.
Noch ein Zitat für Sie: «Brüssel will den Lohnschutz der Schweiz vermindern und der EU-Gerichtsbarkeit unterstellen. Dies ist klar der Hauptgrund für ein institutionelles Rahmenabkommen.»
Bundesrat Ignazio Cassis wird es in Brüssel ebenfalls so vernommen haben. Aber das Zitat stammt von Alt-SP-Nationalrat Rudolf Strahm. Er hat es im «Tages-Anzeiger» geschrieben. Strahm ist ein kritischer Linker und war schon gegenüber einem EWR-Beitritt skeptisch.
Sind SVP und SP europapolitisch jetzt plötzlich geeint?
Warten wir es ab. Die Gewerkschaften erleben jetzt beim Lohnschutz, was passiert, wenn die EU und nicht die Schweiz selber die Gesetze für die Schweiz macht. Die Gewerkschafter haben zu recht Angst vor der Personenfreizügigkeit und lehnen sie ab. Deshalb musste die Gewerkschaftsführung handeln und in der Folge auch die SP. Es rächt sich jetzt, dass die Linke lange blind gegenüber der Gefahr durch Übernahme fremder Gesetze war.
Wie erklären Sie sich die europapolitische Wende der SP?
Die Wirklichkeit dringt durch den ideologischen Nebel. Und wegen ihrer finanziellen Abhängigkeit kann sich die SP immer weniger von den Gewerkschaften distanzieren. Viele Abstimmungskämpfe zahlen ja die Gewerkschaften. Deshalb bestand die SP beim Rahmenvertrag auch auf einer roten Linie für die flankierenden Massnahmen. Jetzt merkt auch die SP, dass mit dem Rahmenvertrag die EU befiehlt. In diesem Fall trifft es vor allem die Linke. Aber bei den Steuern, der Unionsbürgerschaft, den Beihilfen oder dem Freihandelsvertrag, um nur einige Beispiele zu nennen, trifft es alle Bürger.
Erhöht die Skepsis bei SP und Gewerkschaften die Chancen der Selbstbestimmungsinitiative?
Jedenfalls beginnt es zu tagen! Wir haben die Selbstbestimmungsinitiative lanciert, um die direkte Demokratie zu retten. Sie sorgt dafür, dass weiterhin Schweizer Recht gilt. Die Skepsis der Gewerkschaften zeigt nun allen, was passiert, wenn nicht die Schweiz, sondern das Ausland bestimmt. Kürzlich sagte sogar Frau Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey: «Das Schweizer Recht schützt besser als das europäische.» Seit 2015 stellt man in Bundesbern plötzlich und willkürlich ganz allgemein internationales Recht – generelles Völkerrecht – über das Schweizer Recht und entmachtet damit die Bürger und das Parlament. Dies, obwohl der Bundesrat in seinem Bericht noch 2010 darlegte: «In keinem Staat wird dem Völkerrecht uneingeschränkt der Vorrang vor dem Landesrecht eingeräumt.»
Wird die Linke in der Europapolitik nun zur Verbündeten der SVP?
Nein, die SP will das Gegenteil. Sie will den Rahmenvertrag und in die EU. Sie wird darum kippen.
Inwiefern?
Der sogenannte Rahmenvertrag ist ein kolonialer Vertrag. Die EU bestimmt über die Schweiz, und die Schweiz hat zu gehorchen. Das will die SP, aber leider wollen das auch die anderen Parteien. Jetzt merkt die SP, dass ein Kolonialvertrag noch schlimmer ist als eine Fusion mit der EU. Also will sie den EU-Beitritt, die volle Einbindung der Schweiz in die EU. Doch der einzige gangbare Weg für die Schweiz ist der bisherige selbstbestimmte, weltoffene und erfolgreiche Weg. Davon bin ich fest überzeugt und wahrscheinlich auch die Mehrheit des Volkes.
Die Wirtschaft spricht sich ebenfalls für einen Rahmenvertrag und gegen die Selbstbestimmungsinitiative aus. Der Dachverband Economiesuisse plant bereits die Kampagne.
Der bewährte Weg der Schweiz war bis in die neunziger Jahre stets auch die entscheidende Marschrichtung dieses Wirtschaftsverbandes. Aber heute wird er von Grossunternehmen dominiert, die wiederum oft von ausländischen Managern dominiert werden. Das ist ja nichts Schlechtes, aber ihnen ist die Schweiz und insbesondere unsere direkte Demokratie fremd. Ein ganzes Volk zu überzeugen, ist für sie schwieriger, als EU-Gremien zu beeinflussen. Darum nehmen auch sie in Kauf, dass die EU für die Schweiz die Gesetze macht. Sie fahren deshalb so schwere Geschütze gegen die Selbstbestimmungsinitiative auf, weil diese die bewährte direkte Demokratie retten will. Dabei kämpfen sie mit haarsträubenden Argumenten.
Sie meinen die Behauptung von Economiesuisse, dass bei einem Ja zur Selbstbestimmungsinitiative 600 wirtschaftsrelevante Abkommen gefährdet seien?
Und jeder weiss: Das ist doch Chabis. Man sucht nach Argumenten, um nicht zugeben zu müssen, dass man die direkte Demokratie ablehnt. Für eine weitsichtige Staats- und Wirtschaftspolitik sind diese Organisationen nicht mehr geeignet. Sie traten schon 1992 massiv für den ebenfalls koloniale Züge aufweisenden EWR/EU-Beitritts-Vertrag ein und prophezeiten mit dem EWR-Nein den wirtschaftlichen Untergang der Schweiz. Doch das Schweizervolk stimmte Nein, und nicht zuletzt deshalb geht es der Schweiz besser als anderen Ländern.
Für einen ehemaligen Unternehmer gehen Sie ziemlich hart ins Gericht mit der Wirtschaft.
Ich bin ja noch heute Unternehmer, und ich kritisiere nicht die Wirtschaft, sondern deren Organisationen. Ein Unternehmer denkt ja ganzheitlich. Das fehlt diesen Organisationen und Managern. Ihre Forderungen sind Ausdruck von Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit.
Ignazio Cassis hat in seinem ersten Interview als Bundesrat gesagt, die Globalisierung habe in gewisser Weise die Wirtschaft von der Politik entkoppelt.
Hat er?
Was halten Sie von ihm?
Sagen wir es so: Er ist nicht das einzige Mitglied des Bundesrats, bei dessen Äusserungen zur Europapolitik man nicht immer ganz drauskommt. Aber er spricht immerhin unangenehme Tatsachen offen an – auch gegenüber seinen Bundesratskollegen. Das ist positiv. Als sein Vorgänger, Didier Burkhalter, noch im Amt war, musste man immer nach Brüssel, um zu erfahren, was auf Schweizer Seite in der Europapolitik lief. Heute wird die Diskussion offener geführt. Aber im EDA sitzen nach wie vor lauter betonierte Internationalisten. Cassis braucht viel Kraft, wenn er hier durchgreifen will. Ob er die hat? Hoffen wir es.
Bei Ignazio Cassis' Partei, der FDP, scheint die Begeisterung für einen Rahmenvertrag mit der EU etwas nachzulassen. Freut Sie das?
Nicht nur bei der FDP, auch bei der CVP macht sich im Vorwahljahr Skepsis breit. Deshalb reden die Parteipräsidenten jetzt von Sistierung der Gespräche.
Sie dürften den Wahlkampf und die SVP-Initiative im Blick gehabt haben.
Natürlich. Sie hocken da wie das Kaninchen vor der Schlange. Für FDP und CVP ist es der Fluch der bösen Taten. Bis 1989 standen noch alle bürgerlichen Parteien geschlossen hinter einer unabhängigen, neutralen und direktdemokratischen Schweiz. Die Souveränität war etwas Unantastbares. Danach verloren FDP und CVP den Kopf, distanzierten sich von Neutralität und Souveränität und standen erst für einen EWR- und später für den EU-Beitritt ein. Heute spüren sie den Widerstand im Volk und korrigieren ihren Kurs wenigstens verbal. Aber sie kämpfen verbissen gegen die Selbstbestimmungsinitiative. Die wichtigste Frage in einem Staat ist: Wer ist der Gesetzgeber? Diese Frage soll im Wahljahr nicht zur Sprache kommen. Deshalb plädieren sie für Sistierung des Rahmenabkommens.
Und wie geht es Ihrer Ansicht nach weiter?
Jetzt wird ihnen immer klarer, was ein institutionelles Abkommen bedeutet. Die Parteien haben sich verrannt und wissen nicht mehr weiter.
Sie glauben nicht daran, dass ein Rahmenvertrag eine Mehrheit im Volk haben könnte?
Nein, die Schweizer Bevölkerung gibt die schweizerische Souveränität und insbesondere die direkte Demokratie nicht preis. Zudem: Die Schweizer Bevölkerung ist der EU gegenüber skeptischer geworden. Laut einer ETH-Studie sind nur noch 15 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer für einen EU-Beitritt. Bei der EWR-Abstimmung 1992 waren es noch um die 50 Prozent. In der Bevölkerung ist der Wille zum Widerstand grösser als bei den führenden Leuten. Vor allem die Bürger verlieren ihr Recht, im eigenen Land zu bestimmen. Dagegen wehrt sich die Selbstbestimmungsinitiative, die im November zur Abstimmung kommt. Aber die Forderung der EU nach einem Rahmenvertrag bleibt bestehen.
Wer wird – nach der SVP – als Erstes den Abbruch fordern?
Ich glaube, niemand. Sie werden sich durchwursteln, so dass eine Volksabstimmung unerlässlich wird. Darauf bereite ich mich vor. Die unverbindlichen Sistierungsaufforderungen und vielerlei Vernünfteleien sind Kaschierungen. Das Volk wird dann entscheiden.
Wie geht es im Bundesrat weiter?
Er hält am verhängnisvollen Verhandlungsmandat fest und hat den unmöglichen Zeitplan der EU akzeptiert. Man wird versuchen, das Schweizervolk einzulullen. Die EU will aber unbedingt jetzt und nicht morgen ein hartes Abkommen, schon um den Briten zu zeigen, dass auch die Schweiz spuren muss.
Das heisst?
Der Schweizer Vertrag wird als Druckmittel gegen die Engländer eingesetzt. Dies darf die Schweiz nicht zulassen. Doch die EU wird den Druck auf die Schweiz erhöhen: «Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.» Nachteile und kleinere Erpressungen werden folgen, wie sie das schon mit der Nichtanerkennung der Börsenäquivalenz versucht hat. Hier kommt sie wieder, die ewige Frage unserer Geschichte: Widerstand oder Anpassung? Die Antwort ist klar: Widerstand! Dieser Herbst könnte unangenehm werden.
Das sind schlechte Aussichten für den Wirtschaftsstandort.
Schlecht nicht, aber unangenehm. Die Schweiz sollte sich darauf vorbereiten. Sie hat vorbehaltene Entschlüsse zu fassen; und sie muss allfällig zu treffende Gegenmassnahmen bereithalten. Das ist das einzige Mittel, das etwas bringt. Man bedenke: Die EU exportiert pro Jahr für 133 Milliarden in die Schweiz, die Schweiz in die EU bloss für 117 Milliarden. Bundesrat Ueli Maurer hat bereits vorsorgliche Massnahmen gefordert. Bis jetzt scheint er damit aber bei Bundesrat und Parlament noch nicht durchgedrungen zu sein.
Dann wären wir gefährlich nah an einer Eskalation.
Ja, die EU zielt mit ihren Massnahmen möglicherweise auf einen Handelskrieg. Allerdings hat auch sie gegenteilige Interessen. Auch der EU geht es ums Portemonnaie. Wichtig ist, dass die EU endlich erkennt und akzeptiert, dass die Schweiz ihre Unabhängigkeit, Freiheit, Sicherheit, die direkte Demokratie und den Föderalismus nicht preisgibt. Darum muss die Selbstbestimmungsinitiative angenommen und der EU-Rahmenvertrag abgelehnt werden.
Quelle: https://www.nzz.ch/schweiz/christoph-blocher-dieser-herbst-koennte-unangenehm-werden-ld.1415488