Die frühere Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (2003 bis 2011) ergründet in ihrem neuen Buch «Die Neutralität» die Bedeutung der Neutralität für die Schweiz.
Die Weltwoche präsentierte in der Ausgabe 48 folgenden Vorabdruck:
Tatsächlich entsprang die Neutralität in der Geschichte der Schweiz weniger politischem Kalkül als innerer Notwendigkeit. Die Eidgenossenschaft ertrug selbständige Kantone mit eigener Aussenpolitik nur insofern, als diese sich im Konfliktfall in Zurückhaltung übten. Diese Notwendigkeit ist auch heute noch gegeben. Am 14. Dezember 1914 hält der Schweizer Dichter Carl Spitteler, der damals zu den angesehensten deutschsprachigen Schriftstellern zählte, eine Rede vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Er wendet sich an seine Landsleute und ruft sie zur Einigkeit auf. Tatsächlich richteten sich damals die Blicke der Deutschschweizer auf Deutschland und die der Romands auf Frankreich, und die Zeitungen übernahmen diesseits und jenseits der Saane die Propaganda der Kriegsparteien. Doch gerade weil sie vom Krieg verschont geblieben sind, sagt Spitteler, dürfen die Schweizer nicht nach fremden Massstäben urteilen, sondern sollen ihren eigenen ethischen und moralischen Wertvorstellungen treu bleiben. Dazu gehören die Neutralität und der Widerstand gegen Kriegshetze.
Die Eidgenossen verständigen sich 1647 auf den Status der Neutralität des Landes, ein Jahr vor der Unterzeichnung des Westfälischen Friedens. Ihre Botschaft lautet: Wir werden niemanden mehr angreifen; wir werden uns höchstens verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Dies kommt einem endgültigen Verzicht auf militärische Aggression als Instrument der Sicherheitspolitik gleich. Die Eidgenossen verpflichten sich mit diesem Entscheid dazu, die Durchsetzung ihrer nationalen Interessen nie mehr mit Gewalt zu suchen, und sie tun dies, lange bevor das Völkerrecht den Krieg ächtet. Rückblickend ist dieser Entscheid in einer Epoche, in der der Krieg als legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen galt, regelrecht revolutionär zu nennen.
Neutral sein sei feige, sagen die einen, und man wolle nicht Partei ergreifen, um von einer nützlichen Gleichgültigkeit zu profitieren. «Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet», stellte schon Carl Spitteler fest. «Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Ich rufe Ihrer aller Gefühle zu Zeugen an, dass wir nicht gleichgültig sind. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig.» Andere sehen in der Neutralität ein Zeichen von Schwäche, denn die Schweiz sei existenziell darauf angewiesen, dass die umliegenden Grossmächte ihren Neutralitätsstatus fördern und anerkennen. Wieder andere betrachten die Neutralität vor allem als Instrument der nationalen Sicherheit: Denn gäbe es unser Land heute noch, wenn es sich in den beiden Weltkriegen nicht für neutral erklärt hätte? Trotzdem identifiziert sich eine überwiegende Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer mit der Neutralität ihres Landes; sie ist identitätsstiftend.
Tatsächlich zeigt die Jahresstudie der Militärakademie und des Center for Security Studies der ETH Zürich auf, dass 96 Prozent der Befragten dem Neutralitätsprinzip zustimmen. Für 85 Prozent von ihnen ist die Neutralität «untrennbar mit dem Schweizer Staatsgedanken» verbunden, und eine klare Mehrheit ist der Auffassung, dass die Schweiz dank der Neutralität ihre Guten Dienste anbieten kann und sogar für die Rolle der Vermittlerin und Moderatorin in internationalen Konflikten prädestiniert ist. Die Studie zeigt, dass die Neutralität in einer vielfältigen Schweiz, die mehrere Kulturen, Sprachen und Religionen vereint, stets dazu dient, den inneren Zusammenhalt zu garantieren, und dass der Schweiz in der Staatengemeinschaft eine besondere Rolle zugedacht wird: durch ihr humanitäres Engagement, ihre Guten Dienste und eine Politik des Dialogs und der Friedensförderung.
«Neuter» heisst auf Lateinisch «keiner von beiden». Die Neutralität ist demnach ein negatives Konzept und impliziert eine Haltung des Verzichts. Sie gilt nach der zu Zeiten der Kreuzzüge entwickelten Doktrin vom gerechten Krieg als Zeichen des Egoismus. Wie sollte man es rechtfertigen, nicht an der gemeinsamen Anstrengung eines gerechten Kriegs gegen die «Ungläubigen» teilzunehmen? Doch mit zunehmendem Abstand von dieser mittelalterlichen Doktrin wird ein positiveres Verständnis der Neutralität möglich. Sie hüllt sich in Unparteilichkeit, in die Robe eines neutralen Richters, der Recht spricht. Diese Auslegung beruht nicht auf einer angeblichen Gleichgültigkeit, sondern auf einem bewussten Entscheid. Sie bereitet einer aktiven Neutralität den Weg, die mit beherzter Politik Konflikten vorbeugen und sie lösen will. Doch auch diese Interpretation setzt voraus, dass man sich an fremden Auseinandersetzungen oder Kriegen nicht beteiligt.
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Micheline Calmy-Rey: Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild. NZZ Libro. 108 S., Fr. 29.–, ISBN: 978-3-03810-493-3, Ab 30. November im Handel
Die frühere Bundesrätin und Vorsteherin des EDA Micheline Calmy-Rey plädiert für eine zeitgemässe Interpretation der Schweizer Neutralität. Sie stellt die Frage, was diese in modernen Konflikten oder bei Terrorismus und Cyberattacken leisten kann.
Autoren, Diplomaten oder auch Professoren beklagen sich heute über die Omnipräsenz der Neutralität in der politischen Debatte. Wir würden zu viel über die Neutralität sprechen, es wäre an der Zeit, diese etwas zu vergessen. Das Konzept der Neutralität sei veraltet. Sie würde lediglich noch die militärischen Fragen zwischen einem neutralen Staat und einer Konfliktpartei regeln. Micheline Calmy-Rey, langjährige Bunderätin und Leiterin des EDA, zeigt in ihrem Buch, was die Neutralität heute noch leisten kann. Heute, wo (für die Schweiz) militärische Konflikte weniger aktuell sind als zum Beispiel der Klimawandel. Was kann die Neutralität zugunsten der öffentlichen Sicherheit leisten? Gegen den Terrorismus, Cyberattacken oder innerstaatliche Gewalt? Schliesslich zeigt die Autorin, inwiefern die Schweizer Neutralität auch als Inspiration für die EU dienen könnte. Ist die Neutralität für die Schweiz noch ein nützliches Instrument oder nur noch ein Mythos?
Mit Beiträgen von Jean Ziegler, Roger Köppel und Paul Seger.
Autor/in
Micheline Calmy-Rey (*1945) studierte Politikwissenschaft an der Universität Genf. Mitglied des Grossen Rats des Kantons Genf (1981–1997), Präsidentin des Grossen Rates des Kantons Genf und der SPS des Kantons Genf (1986–1990, 1993–1997), Staatsrätin des Kantons Genf (1997–2002), zuletzt zwei Jahre als Präsidentin. 2003–2011 Bundesrätin, davon 2007 und 2011 als Bundespräsidentin. 2010 Präsidentin des Europäischen Rats. Seit 2012 Professorin am Global Studies Institute der Universität Genf.