Es sind nicht «ein paar Details» im Rahmenabkommen, die rasch mit ein paar Zusatzpapieren geregelt werden können. Sondern politische Mammut-Differenzen. Es kann nur eins geben: Ein neues Verhandlungsmandat.
Eine Motion der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) des Ständerates verlangt vom Bundesrat, er solle mit der EU Zusatzverhandlungen zum Rahmenabkommen führen – oder andere geeignete Massnahmen ergreifen, um dieses zu verbessern. Zudem soll die Begrenzungs-Initiative rasch zur Abstimmung kommen.
Die Motion wurde am 12. Juni 2019 behandelt und mit 22 zu 16 bei 6 Enthaltungen angenommen.
Ständerat Thomas Minder hat die Motion aus grundsätzlichen Überlegungen abgelehnt. Seinen Standpunkt hat er verständlich und klar vertreten:
«Der Bundesrat will Zusatzverhandlungen respektive – in seiner Terminologie – eine Klärung in Sachen Unionsbürgerrichtlinie, Sicherstellung des Lohnschutzes und Ausschluss der staatlichen Beihilfen. Die Motion und somit die WAK will zusätzlich Bestätigungen seitens der EU, dass die demokratischen Mitbestimmungsrechte trotz dynamischer Rechtsübernahme nicht abgebaut und der Streitbeilegungsmechanismus in Sachen Tatbestände und Funktion des EuGH (EU-Gerichtshof) geklärt wird.
Das sind alles Mammutdifferenzen und somit politische Differenzen, welche man sicherlich nicht einfach in einem Anhang oder mit einer Erklärung aus dem Weg räumen kann. Diese politischen Differenzen bestehen seit fünf Jahren. Da träumen einige, wenn sie glauben, die EU würde in einer nun anvisierten Zusatzrunde mitmachen. Die Forderungen in dieser Motion rufen nach einem neuen Verhandlungsmandat, aber sicher nicht, wie im Motionstext erwähnt, nach Zusatzverhandlungen. Da gaukeln wir dem Volk einiges vor. Die Bezeichnung "Zusatzverhandlungen" im Titel der Motion ist unlauterer Wettbewerb, denn die im Motionstext aufgeführten Punkte sind keine Nebenschauplätze und keine Begriffserklärungen. Die darin aufge-führten Punkte sind seit vielen Jahren bestehende, namhafte politische Differenzen, ja geradezu rote Linien. Die Wirtschaftskommission und der Bundesrat haben nicht den Mut gehabt, zu sagen, dass dieses Rahmen-abkommen schlecht ist für die Schweiz. Daher die unehrliche Antwort gegenüber Brüssel, man unterzeichne zurzeit vorerst nicht und wolle zuerst Zusatzverhandlungen.
Die Fragezeichen sind derart vielfältig und derart dick und fett und insbesondere politischer Natur, da helfen zur Klärung auch die Zusatzverhandlungen nicht. Unser direktdemokratisches System mit dem Bürger als Souverän und dem letzten Wort beim Bürger verträgt sich schlicht und einfach nicht mit der dynamischen Rechtsübernahme und dem überheblichen Getue in Brüssel. Eines ist unbestritten, auch wenn wir heute dieser Motion zustimmen: Die dynamische Rechtsübernahme bleibt bestehen, sie ist der wahre Killer dieses Rahmenabkommens; das ist die dynamische Rechtsübernahme, es sind nicht die in der Motion angesprochenen Punkte. Die dynamische Rechtsübernahme ist, was das Volk nicht will. Sie würde unsere Souveränität gewaltig einschränken. Die dynamische Rechts-übernahme ist mit unserer direkten Demokratie nicht kompatibel. Sie ist eine Totgeburt, sie wird allerspätestens vor dem Volk scheitern.
Herr Bundesrat Cassis, es ist dem Souverän gegenüber nicht ehrlich, wenn Sie dauernd sagen, die Schweiz könne bei einer dynamischen Rechtsübernahme zwar Nein sagen, doch auf die Frage, wie denn diese von Brüssel auferlegten Ausgleichs-massnahmen aussehen würden, keine Antwort haben. Sie sagen dann einfach, diese Retentionen müssten verhältnismässig sein. Doch auch diese Aussage ist nicht definiert; weil weder die Ausgleichsmassnahmen noch die Verhältnismässigkeit klar definiert sind, droht zumindest theoretisch der Supergau – der Supergau, dass die EU einen integralen bilateralen Vertrag während längerer Zeit dauerhaft aussetzen könnte.
Sowohl inhaltlich wie zeitlich: Wir wissen alle nicht, wie diese Ausgleichs-massnahmen aussehen könnten. Wir kennen den Inhalt nicht, und wir kennen die zeitliche Dauer nicht. Das alles – genau diese grossen, fetten Fragezeichen – verkauft uns der Bundesrat mit dem Etikett Rechtssicherheit.
Dass der Bundesrat nicht den Mut hatte, einen solch unklaren Vertrag abzulehnen, bei dem man nicht einmal weiss, wie nach einem Nein des Souveräns die Art und das Ausmass der Retentionen aussieht, zeigt seine Führungsschwäche in diesem Geschäft. Das ist doch kein brauchbarer Vertrag, wenn wir alle – das Parlament, das Volk, der Bundesrat – die Auswirkungen allfälliger Ausgleichsmassnahmen inhaltlich und zeitlich nicht kennen. Das wider-spricht sogar der Bundesverfassung, gemäss welcher der Souverän stets ein Recht auf die freie Willensbildung und unverfälschte – unverfälschte! – Stimmabgabe hat. Sind aber Auswirkungen eines Neins an der Urne systematisch derart unklar, so verkommt die direkte Demokratie zur Lotterie und zur Farce. Kann der Souverän die Folgen seines Neins nicht abschätzen, so ist die unverfälschte Stimmabgabe verletzt. So einfach ist das. Das steht alles nicht in der Motion. Ich möchte Sie einfach darauf hinweisen, wie unvollständig diese Motion ist.
Ein zweiter, ganz zentraler Konstruktionsfehler im Rahmenabkommen ist, nebst der dynamischen Rechtsübernahme und deren Folgen, die Position des Schiedsgerichtes. Es ist grundlegend falsch, politische Diskrepanzen zwischen der EU und der Schweiz, wie die Unionsbürgerrichtlinie, die staatlichen Beihilfen oder die Koordination der Sozialhilfe-leistungen, rechtlich oder juristisch über ein Schiedsgericht zu klären. Politische Meinungsdifferenzen müssen politisch und im Gespräch gelöst werden und nicht rechtlich-juristisch via Schieds-gericht. Auch das steht nicht in der Motion, ist aber ganz zentral.
Der Brexit sollte uns eigentlich ein Warnschuss vor den Bug sein. Dort hat man die Konsequenzen von Meinungsdifferenzen und den Ausstieg auch zu regeln vergessen. Das Theater ist allen bekannt. Wenn wir in der Schweiz legiferieren, regeln wir jeden Millimeter. Hier aber, beim Rahmen-abkommen, sind die Fragezeichen derart vielfältig und dick, dass auch diese Motion keine Verbesserung bringt.
Fazit: Diese Motion macht das Rahmenabkommen nicht besser. Es ist und bleibt eine Fehlkonstruktion mit grossem Gefahren-potenzial für unsere Selbstbestimmung. Wir können und dürfen mit der EU Geschäfte machen, was uns die Wirtschaftsvertreter in diesem Zusammenhang dauernd in Erinnerung rufen. Doch um Geschäfte zu machen, braucht die Schweiz keine dynamische Rechtsübernahme und keine politische Bevormundung durch die EU.
Jahrzehntelang hat man uns weisgemacht, der bilaterale Weg sei der Königs-weg, und nun soll plötzlich nur noch dieses Rahmenabkommen die Zusammenarbeit und Weiterentwicklung mit der EU erlauben. Wenn dem so wäre: Warum ist denn ausser einem geplanten Stromabkommen kein anderer Wirtschaftsbereich an einem Abkommen interessiert? Nicht einmal ein Finanzdienstleistungsabkommen wird anvisiert, weder von der Branche, noch vom Bundesrat.
Diese Tatsache demonstriert, dass wir keineswegs in einer Sackgasse sind. In der Kommission haben wir eine Liste mit den hängigen Differenzen zwischen der Schweiz und der EU erhalten. Wenn Sie diese Liste studieren – ich weiss nicht, ob sie öffentlich ist –, so stellen Sie fest, dass diese Differenzen alles andere als "majeures" sind. Es sind kleinere Streitigkeiten, Nebenschauplätze, die kein Schiedsgericht und noch viel weniger ein Rahmenabkommen rechtfertigen würden.
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung: Bei Motionen heisst es immer, man müsse den Text ganz genau lesen. Das mache ich hier. Da steht ganz am Schluss: "Ferner ist die Behandlung der eidgenössischen Volks-initiative 'für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungs-Initiative)' zeitlich vorzuziehen." Da sprechen wir von einer Zeitspanne von ein bis zwei Jahren, mit Volksabstimmung, wenn wir diese Motion zuerst umsetzen möchten. Wenn Sie den Brief von Herrn Juncker lesen (Letter_President_Juncker_to_President_Maurer_11.06.2019 ), so ist zu spüren, dass es da unweigerlich eine Diskrepanz auf der zeitlichen Achse gibt. Aus all diesen Überlegungen bitte ich Sie, diese Motion abzulehnen.»
Vollständiges Protokoll der Debatte im Ständerat: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=46320