In der Diskussion um die institutionelle EU-Anbindung - sprich Rahmenvertrag - kommen verstärkt die sogenannten «Flankierenden Massnahmen (FlaM)» zur Sprache. Einst dem Schweizer Stimmbürger als Ja-Balsam zur EU-Peronenfreizügigkeit verkauft, zeigen sie heute eine vielseitige Heuchelei auf. Der folgende Artikel von Niklaus Ramseyer liefert spannende Gedanken. Der Beitrag ist auf www.infosperber.ch publiziert.
Niklaus Ramseyer, infosperber.ch / 7. Mai 2018
«Flankierende Massnahmen» erweisen sich immer mehr als Feigenblatt auf Zeit. Die SP pocht dennoch auf einen «Rahmenvertrag».
«Flankierende Massnahmen» erweisen sich immer mehr als Feigenblatt auf Zeit. Die SP pocht im Chor mit der FDP dennoch auf einen «Rahmenvertrag» mit der EU – und sieht zusehends alt aus.
«Lohngleichheit – Punkt. Schluss!» So lautete die Parole des Gewerkschaftsbundes (SGB) zum Tag der Arbeit am 1. Mai. Gemeint war gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Mann und Frau, wie es die Verfassung unseres Landes seit über 20 Jahren eigentlich verlangt. Aber noch heute seien «40 Prozent der Lohnungleichheit nur mit Diskriminierung erklärbar», monierten die Gewerkschaften sehr zu Recht. Und: «Jeder Frau entgehen so jeden Monat im Schnitt 600 Franken.»
Noch mehr «Lohnungleichheit» grassiert derweil auch und zunehmend zwischen inländischen und zugereisten Werktätigen im Rahmen des freien Personenverkehrs mit der EU. In EU-Ländern sowieso, wie der «Kassensturz» des Fernsehen SRF in einer fundierten Reportage unlängst erneut aufzeigte.
Da werden etwa transnational verschobene Menschen in Südspanien mit 32 Euro für einen Achtstunden-Tag abgespeist. Sie können damit nie menschenwürdig leben und hausen in jämmerlichen Hüttensiedlungen. Niemand kontrolliert und schützt sie. Würden diese Leute nur schon jene «600 Franken Monatslohn weniger» verdienen, welche Schweizer Gewerkschafter jetzt als «Lohnungleichheit» anprangern, sie wären überglücklich.
Die Schweiz, die zum EU-Grossraum des transnationalen «freien Personenverkehrs» mit dazu gehört, ist gegen solche Lumpereien auch sonst keineswegs gefeit: Immer wieder fliegen hierzulande krasse Lohndumpereien auf – auf Baustellen vor allem, aber auch im Gastgewerbe oder in der Landwirtschaft. Das geht bis hin zur Sklaverei, wie der «TagesAnzeiger» am 17. Oktober letzten Jahres in einer erschreckend eindrücklichen Reportage aufgezeigt hat: «Auch in der Schweiz arbeiten Menschen unter Zwang zu unwürdigen Bedingungen», schrieb das Blatt. Und nannte konkrete Beispiele. Diese Opfer modernen Sklavenhandels hätten in der Fremde meist «einen ungesicherten Aufenthaltsstatus». Und: «Sie waren bereits in ihrer Heimat in finanzieller Not.»
Die niederländische Globalisierungs-Fachfrau Saskia Sassen stellt generell eine «neue verschärfte Form der Migration» fest, nämlich «die Ausstossung vieler Menschen in die Fremde durch Zerstörung ihrer Lebensbedingungen», wie sie auf einem Europa-Kongress im vergangenen September in Zürich betonte. Für derlei «Ausgestossene» hat der «freie Personenverkehr» wenig mit Freiheit zu tun, aber viel mit Not, Zwang und Zerstörung.
«Flankierende Massnahmen» als Zückerchen und Flickwerk
Es wurde beim Beitritt der Schweiz zur EU-Personenfreizügigkeit (2002) erlassen. Schon damals räumten freisinnige EU-Anhänger offen ein, es handle sich dabei vorab um ein Zückerchen für die unkritisch-internationalistisch orientierte Linke, damit diese die Anpassung der Schweiz an die EU-weite Deregulierung des Arbeitsmarktes willig «mittrage». Und für Volksmehrheiten sorgen helfe.
Das tat vorab die Führung der SP Schweiz seither unentwegt. In Fernsehdebatten wurde die Personenfreizügigkeit von Linken im Chor mit Freisinnigen gar als «Menschenrecht» bezeichnet. Dabei hatte etwa der frühere Preisüberwacher und SP-Nationalrat Rudolf Strahm seine Genossen längst gewarnt, der freie Personenverkehr sei vorab «ein neoliberales System» zwecks europaweiter kostengünstiger Beschaffung des «Produktionsfaktors Arbeit». Umsonst: Die SP-Oberen verteidigten dieses System stets verbissen mit dem Verweis auf die «flankierenden Massnahmen».
NZZ und SVP bekämpfen «Flankierende»
Jahrelang klammerten sich die EU-Anhänger unter den Linken an diesen Strohhalm namens FlaM. Und pochten ebenso unentwegt wie meist erfolglos auf «bessere Kontrollen und härtere Sanktionen». Die NZZ, das Zürcher Kampfblatt der Neoliberalen, bestätigte derweil Strahms Befund und polemisierte unentwegt gegen die FlaM, die sie als «Lohnkartell» bezeichnet: Eine «Lohnpolizei» greife «dreist in die ureigene Geschäftsdomäne von Unternehmen ein», klagte das Blatt etwa. Nämlich «selber zu entscheiden, welches Personal sie einstellen und wie sie dieses entlöhnen».
Mehr noch: Die Flankierenden dienten gar nicht «dem Schutz der Schwächsten». Ganz im Gegenteil: «Die relativ wohlhabenden Schweizer Arbeitnehmer sollen vor der Konkurrenz durch relativ arme ausländische Stellensuchende geschützt werden.» Diesen «relativ Armen» nämlich nähmen die FlaM «einen ihrer Wettbewerbsvorteile weg – die Bereitschaft, mehr zu arbeiten bzw. für weniger Lohn zu arbeiten».
Von solchen Hungerlöhnen möchten offenbar auch die Unternehmer in der SVP mehr profitieren: «Flankierende Massnahmen zerstören den liberalen Arbeitsmarkt», klagten die SVP-ChefInnen Ende Januar im Chor mit den NZZ-Ideologen. Die FlaM nützten «nur den Gewerkschaften». Konkret geht es bei den FlaM darum, dass Firmen ausländische Beschäftigte und auch die mit ihnen vereinbarten Löhne acht Tage vor deren Arbeitsantritt den Schweizer Ämtern melden und teils auch eine Kaution hinterlegen müssen, mit der dann im Missbrauchsfall Löhne und Bussen bezahlt werden können.
SVP im Gleichschritt mit Brüssel gegen FlaM
Solche «aus liberaler Sicht fragwürdigen» (NZZ) Schutz-Regulierungen will die SVP weghaben. Sie bekommt dabei nun Schützenhilfe von ungewohnter Seite: «Brüssel will Massnahmen gegen Lohndumping nicht garantieren», konnte man in der neusten «Sonntagszeitung» lesen. Das wundert wenig: Für die EU-Funktionäre ist die Ideologie des «freien Wettbewerbs» ebenso heilig wie für die NZZ. Die Melde- und Kautionspflicht gemäss Schweizer Gesetz über die Flankierenden nennen die EU-Funktionäre «Arbeitsverbote und Diskriminierungen für ausländische Unternehmer». Das lehnen sie stur ab.
Und blockieren so die Verhandlungen über jenes «institutionelle Rahmenabkommen» Schweiz-EU, das Grossunternehmer und der Freisinn ebenso hartnäckig fordern wie die SP-Führung. Letztere indes stets mit der Bedingung, dass «ihre» flankierenden Schutz-Massnahmen darin verankert werden. Mehr der Not gehorchend (weil sonst nicht «mehrheitsfähig») als der eigenen neoliberalen Neigung hat unsere inzwischen eher rechtsbürgerliche Landesregierung diese SP-Forderung zur «roten Linie» in den Verhandlungen erklärt. Und kann nun nicht mehr zurück.
SPS von «ihrer» neoliberalen EU versetzt
Noch dümmer steht die SP-Führung da: Jene Brüsseler EU, die sie als letzte Partei hierzulande fast bedingungslos verteidigt, fällt den Sozialdemokraten nun bei deren Schutzmassnahmen für inländische Werktätige (FlaM) knallhart in den Rücken. In der UNIA-Zeitung «Work» hielt Rieger fest: «EU-Beamte greifen die flankierenden Massnahmen an».
Dabei hatte Strahm auch davor schon Anfang Januar gewarnt: Langfristig werden Brüssel solche «Eingriffe in den freien Markt» kaum tolerieren. Schon lange beträfen nämlich «90 Prozent aller EU-Beschwerden gegen die Schweiz (vorab aus Österreich und Süddeutschland) die Schutzmassnahmen für Schweizer Arbeitnehmer und Gewerbebetriebe».
Diese Beschwerden richteten sich direkt gegen das Prinzip «gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort» (welches der Forderung zum 1. Mai fast exakt entspricht). Dieses Prinzip werde zudem auch vom neoliberal durchwirkten Europäischen Gerichtshof (EuGH) teilweise «ausgehebelt».
Und nicht nur die längst bestehenden FlaM wolle Brüssel weghaben, sondern auch den erst kürzlich beschlossenen «Inländervorrang» für Stellensuchende in der Schweiz. Dies alles könne der EuGH «mit einem Federstrich zur Makulatur machen», warnte Strahm – falls es Brüssel nicht schriftlich im «Rahmenvertrag» garantiere. Die EU nämlich verfolge auch gegenüber Bern «knallharte ausländische Interessen, um das Lohnniveau in der Schweiz mit ungehindertem Marktzugang und tieferen Löhnen unterbieten zu können».
Gewerkschaftsbund warnt vor EU-Gerichtshof
Strahms federführende Gnossen in der SP-Zentrale jedoch sekundierten dem Bundesrat in seinen Bemühungen um ein EU-Rahmenabkommen weiterhin wie keine andere Partei: «Europa: Jetzt muss es vorwärts gehen», forderten sie Ende Januar. Und Anfang April: «Die SP begrüsst den Entscheid des Bundesrates.» Für einen «möglichst schnellen Abschluss der Verhandlungen mit der EU» um ein Rahmenabkommen nämlich. Denn die Schweiz müsse «eine verlässliche Partnerin bei der europäischen Integration bleiben». Da bestehe «Handlungsdruck».
Und stets die Bedingung: Dass die Regierung «eine Schwächung des Arbeitnehmerschutzes ausschliesst». Aber nicht etwa: Sonst werde die SP das Rahmenabkommen bekämpfen. Sondern (fast wie NZZ und Bundesrat) nur: «Sonst wird ein solches Abkommen in der Bevölkerung einen schweren Stand haben.» Dabei ist das umstrittene Abkommen für die Mehrheit der Werktätigen gar nicht von hoher Priorität. Daniel Lampart jedenfalls, der Chefökonom des Gewerkschaftsbundes (SGB) stellte im «Blick» schon Mitte Januar nüchtern fest: «Aus unserer Sicht ist das Rahmenabkommen nichts, was die Schweiz haben müsste.» Es sei vor allem Brüssel, das darauf beharre – «und weniger die Mitgliedstaaten». Denn: «Aus ökonomischer Sicht besteht für uns kein dringlicher Handlungsbedarf.» Wie Strahm, so warnt zudem auch Lampart vor dem EU-Gerichtshof: «Für uns ist entscheidend, dass der Europäische Gerichtshof nicht über die flankierenden Massnahmen urteilen kann. Denn er hat in den letzten Jahren verschiedentlich gegen den Arbeitnehmerschutz entschieden.»
Personenfreizügigkeit: Segen für «Obere»
Fest steht: Das neoliberale Projekt EU will möglichst «uneingeschränkten Wettbewerb» transnational – auch zwischen Lohnabhängigen. Das politisch-juristische Mittel dazu heisst «Personenfreizügigkeit». Doch diese wird (mit oder ohne Flankierende) inzwischen auch von links differenziert betrachtet. So kritisiert etwa Strahm die mitregierende Schweizer Linke: Mit ihrer Idealisierung der Personenfreizügigkeit und entsprechend der freien Zuwanderung habe sie als Teil einer «internationalistisch orientierten, politischen und intellektuellen Elite» die existenziellen Interessen einer breiten, real produktiven Arbeiterschaft «schlicht ignoriert». Und die Bedürfnisse der nicht akademischen Arbeitnehmerschaft vernachlässigt.
Wissenschaftlich unterscheidet die Soziologieprofessorin Cornelia Koppetsch aus Darmstadt bei der Globalisierung generell und der EU-Personenfreizügigkeit im Speziellen zwischen einem «transnationalen Oben und Unten». Oben die «Expats», die Unternehmensberaterinnen aus Frankfurt etwa, Banker aus London oder Architekten aus Taiwan, die «einen gemeinsamen Verkehrs- und Transaktionsraum bewohnen» – in dem sie mit einer «gemeinsamen professionellen Identität einen gemeinsamen kosmopolitischen Lebensstil pflegen». Und in einer Sprache kommunizieren, welche etwa Régis Debrey im «Monde diplomatique» als «Globalesisch» bezeichnet. Debrey weist darauf hin, dass mitunter schon 21 der 30 EU-Behörden ihre Webseiten entsprechend nur noch auf Englisch führten. Das italienische Arbeitsgesetz heisse da dann «Job Act».
Zwang und Fluch für «Untere»
Für die «Klassse der transnationalen Unteren» (Koppetsch) ist das weder gedacht noch verständlich. Hier finden sich Saskia Sassens «durch Zerstörung ihrer Lebensbedingungen in die Fremde Ausgestossenen» wieder. Koppetsch nennt sie «ein modernes transnationales Dienstleistungsproletariat». Dabei beobachtet sie zwei Bewegungen: «Durch Verlagerung von Unternehmen in sogenannte Niedriglohnländer (ABB Meyrin, GE) und durch ArbeitsmigrantInnen aus ärmeren Ländern, welche die gleiche Arbeit günstiger anbieten.» So oder so würden die Löhne damit hierzulande «an die niedrigeren internationalen Massstäbe angeglichen». Was die NZZ bejubelt.
Beiden Klassen, den weltläufigen Oberen sowie den hin und her geschobenen Unteren, ist gemeinsam, dass sie sich in ihrem je lokal oder weltweit gegebenen Arbeits- und Lebensraum politisch und sozial wenig integrieren beziehungsweise engagieren wollen (oben) oder können (unten). Tragisch dabei: Die machtbeteiligte, internationalistische Linke (SPS und teils Grüne) steht immer mehr auf der Seite der «transnationalen Oberen» – zu denen sie mitunter selber gehört. Die SP bewege sich «in einem akademischen Resonanzraum», sagt Strahm. «Sie verliert jene, die sie zu vertreten meinte.» Wagenknecht stimmt ihm zu: «Nachdem die Sozialdemokratie die Seiten gewechselt hat, begann sie in vielen Ländern, ihre neoliberale Politik mit traditionell linken Begriffen wie Internationalismus, Solidarität oder Emanzipation aufzuhübschen.» Dadurch jedoch fühlten sich die WählerInnen nicht vertreten. Und die Leidtragenden der neoliberalen Politik können mit «links» nicht mehr viel anfangen.
«Recht auf Arbeit vor Ort» im eigenen Land
Diese Leidtragenden, denen die neoliberale Linke Wanderarbeiterschaft unter dem Titel «Personenfreizügigkeit» als «Menschenrecht» andrehen will, sollten viel eher noch ein Recht auf Arbeit vor Ort haben, wo sie verwurzelt und integriert sind, hielt der bekannte Ökonom James K. Galbraith den linken Internationalisten auf dem Kongress in Zürich gemäss der Zeitschrift «Widerspruch» (Nr. 70) entgegen: Migration sei wohl ein Recht. Doch ebenso sei es ein Recht «nicht zu emigrieren». Dafür müssten gute Bedingungen in allen Ländern vorhanden sein, nämlich die Möglichkeit, «eine würdige und angemessen entlöhnte Arbeit» vor Ort zu finden.
Für dieses «Recht auf würdige Arbeit vor Ort» kämpft in den Parlamenten EU-weit kaum jemand. Dafür machen sogar auch Linke jene Leute, die «unten» transnational herum geschoben werden, als «Zukurzgekommene» oder «Globalisierungs-VerliererInnen» runter. Und verteidigen die neoliberale Personenfreizügigkeit. In dieser geniesst die Minderheit der «transnational Oberen» teils ein «Recht auf Faulheit» (Paul Lafargue). Und nicht selten auch ein üppiges bedingungsloses Grundeinkommen.