29. März 2017 – Holger Steltzner, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) kommentiert die EU-Austrittspolitik Grossbrianniens: «Der Markt war einmal das zentrale Ordnungsprinzip der EU. Doch er musste Platz machen für die Sozialunion. Der Abschied der britischen Freihändler könnte nun vor allem zur Niederlage für Deutschland werden.»
«Scheidung nach der Diamanthochzeit: Vier Tage nach der Feier zum sechzigsten Gründungsjubiläum erklärt Grossbritannien den Austritt aus der EU. Erstmals verlässt ein Mitglied die Union. Das Misstrauensvotum gegen die Gemeinschaft wird in der EU nicht als solches verstanden. Man tut so, als hätten die Briten nie richtig dazugehört; und weil sie angeblich nur Rosinen pickten, gehörten sie bestraft. Diese Sichtweise grenzt an Realitätsverweigerung einer Union, die sich an den berechtigten Lobeshymnen auf ihre historische Leistung so berauscht, dass sie Gefahr läuft, die Ursachen für ihre multiplen Krisen nicht zu erkennen, die ihre Existenz bedrohen.
Ja, die Briten sind „andere“ Europäer. Das Königreich wollte den Euro nie und zog die eigene Landesgrenze dem Schengenraum vor. Die Vorstellung einer immer engeren Union der Völker Europas entsprach nicht dem britischen Selbstverständnis. Die Briten wollten die wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarktes. Das sahen sie übrigens genauso wie viele Skandinavier und die meisten Mittelosteuropäer.
Nun treiben die Briten die politische Desintegration voran, sogar um den möglichen Preis, dass ein harter Brexit sie wirtschaftlich zurückwirft. Das sollte der EU zu denken geben, nicht nur politisch. Als Wirtschaftsmacht ist Grossbritannien als nach Deutschland stärkstes Land für die EU unverzichtbar. Wirtschaftlich ist das Königreich für die Union so wichtig wie die zwanzig kleinsten Länder zusammen. Das wäre so, als wenn auf einen Schlag 20 von 28 Mitgliedern die EU verliessen.
Brüssel präsentiert gepfefferte Rechnung
Für Deutschland steht viel auf dem Spiel. Nicht nur, weil die anderen EU-Länder davon ausgehen, dass Berlin mit frischen Milliarden für Brüssel die Lücke füllen wird, die Britannien als zweitgrösster Nettozahler hinterlassen wird. In internen Berechnungen geht das Bundesfinanzministerium schon von einem Anstieg der deutschen Beiträge um ein Viertel auf dann 25 Prozent des EU-Budgets aus. Das freut die SPD, schliesslich fordert die Partei höhere EU-Beiträge von Deutschland und verunglimpft die Debatte über die deutschen Nettobeiträge als Fake News.
Für Deutschland ist Grossbritannien der drittwichtigste Handelspartner, die Verflechtungen zwischen den Unternehmen sind eng. Gibt es kein Abkommen mit gegenseitigem Marktzutritt, droht nicht nur in der Finanzwirtschaft die Klippenkante. Auch in der Realwirtschaft wären gegenseitige Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle bedroht.
Was ist das eigentlich für eine Gemeinschaft, die ein Mitglied für einen Austritt bestrafen möchte? Die EU-Kommission präsentiert unter französischer Führung dem Königreich vor Aufnahme offizieller Verhandlungen eine gepfefferte Austrittsrechnung über 60 Milliarden Euro, obwohl sie keinen rechtlich fundierten Anspruch hierfür hat. London möchte wegen der knappen Zeit natürlich über alles zugleich reden.
Doch Brüssel will zuerst über diese Mondrechnung und die Modalitäten des Austritts verhandeln und erst danach ein Abkommen über die künftigen Beziehungen schliessen. Wegen ihrer harten Haltung fürchtet die Kommission jedoch, die Briten könnten sich für einen Austritt vor Ablauf der zwei Jahre ohne Abkommen entscheiden, nach Premierministerin Mays Motto: „No deal is better than a bad deal.“
Die EU hat den Binnenmarkt überreguliert
In der EU wird gerne die Legende erzählt, im Übergang zur multipolaren Weltordnung müsse man Teil eines politischen Zusammenschlusses sein, um Erfolg zu haben. Doch wirtschaftlich stimmt das nicht. In der globalisierten Welt eröffnet der Abbau materieller und immaterieller Zollschranken auch kleineren Ländern den Zugang zu grossen Märkten. Asiens Staaten beweisen, dass über Wachstum vor allem wirtschaftliche Integration und nicht der politische Zusammenschluss entscheidet.
Die Zeiten sind vorbei, in denen der erfolgreiche Binnenmarkt wie ein Magnet neue Mitglieder anzog, weil er Wachstum und Wohlstand schuf. Die EU hat ihn überreguliert und mit politischen Zielen überfrachtet. Früher war der Markt das zentrale Ordnungsprinzip der Gemeinschaft. Aber er musste Platz machen für die Sozialunion. Das Bekenntnis zum Wettbewerb rückte in den Anhang der Verträge. Dafür wurde in Rom die „Europäische Säule sozialer Rechte“ gefeiert. Das ursprünglich auf individuellen Freiheitsrechten beruhende Integrationsmodell der EU verliert mit dem Abschied der britischen Freihändler den Unterstützer und Deutschland im Ringen um die richtige Wirtschaftspolitik der EU seinen wichtigsten Partner.
Im Gegensatz zu Deutschland, das auf EU-Krisengipfeln vor allem verhindert („Madame Non“), haben Frankreich und Italien eine Strategie. Sie wollen die EU oder mindestens die Eurozone in eine Transfer- und Schuldenunion umbauen. Wie will Deutschland das verhindern, wenn das Stimmengewicht zugunsten Südeuropas kippt? Ohne die Briten hat der ehemalige D-Mark-Block für eine Sperrminorität nicht genug Gewicht. In einer Gemeinschaft, die auf Umverteilung zwischen den Ländern setzt, wird die Mehrheit ihre Entscheidung auch dann durchdrücken, wenn sie dabei weniger gewinnt, als der Verlierer verliert. So könnte Deutschland zum Hauptverlierer des Brexits werden.»