Vorweg: In einem Binnenmarkt zirkulieren Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit (Personenfreizügigkeit) frei. Man spricht von den vier Freiheiten. Diese Integrationsstufe setzt eine umfassende Rechtsharmonisierung voraus.
Der Bundesrat hat die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union in die Sackgasse geführt. Auch wenn die EU-Kommission ein sogenanntes Rahmenabkommen für die «Bewirtschaftung» der bilateralen Zutrittsabkommen zum EU-Binnenmarkt gewünscht beziehungsweise gefordert haben soll, lag es doch an der Schweizer Regierung, die Verhandlungen so zu führen, dass elementare Bedingungen des Schweizer Staatswesens nicht in einem solchen Ausmass in Frage gestellt werden müssen. Dass der Bundesrat bereit ist, EU-Recht ohne echte Mitbestimmung zu übernehmen und den EU-Gerichtshof (EuGH) als oberste Entscheidfindung bei binnenmarktrechtlichen Rechtsauslegungen zu akzeptieren, ist mehr als befremdend. Denn der EU-Gerichtshof ist der Wächter des EU-Rechts und somit des EU-Binnenmarktrechts. Schweizer Recht oder Volksentscheide spielen da keine gestalterische Rolle - ist logisch. https://curia.europa.eu/jcms/jcms/j_6/de/.
Übrigens wird auch hierzulande irreführend und wohl den subjektiven Anspruch «EU = Europa» erfüllend vom Europäischen Gerichtshof gesprochen. Das ist falsch; das Organ heisst Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).
Der EU-Binnenmarkt ist der Markt der EU. Daher ist es einleuchtend, dass die EU die Binnenmarktregeln definiert. Wenn aber dieses Binnenmarktrecht die eidgenössische Gesetzgebung und Gerichtshoheit sowie - das ist schwerwiegend - die verfassungsmässig verankerte direkte Demokratie bestimmt und grundsätzlich die Souveränität der Schweiz spürbar eingeschränkt, ist es Zeit zum Nachdenken.
Wäre die Schweiz Mitglied der Europäischen Union, ist eine umfassende Abgabe eigenständiger politischer Gestaltung konsequent. Auch als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR = vier Freiheiten) müsste die Abtretung politischer und demokratischer Eigenständigkeit im Bereich des EU-Binnenmarktrechts folgerichtig sein. Die Schweiz ist weder Mitglied der EU noch des EWR. Wenn sinnvolle und im gegenseitigen Interesse stehende bilaterale Abkommen eingegangen werden, ist eine vertragsmässig definierte gegenseitige Respektierung der aus dem Abkommen entstehenden Verpflichtungen wenigstens für das Schweizer Verständnis selbstverständlich; damit hatte die Schweiz nie Schwierigkeiten. Aber die Fragen des Ausmasses und der genügenden gegenseitigen Balance stehen im Raum. Durch den umfassenden Ausbau der Marktzutrittsabkommen liessen wir uns seit dem «1992er-EWR-Nein» von den EU-orientierten Bundesbehörden unter dem Titel «Exportland Schweiz - EU wichtigster Handelspartner» und mit der Drohung «Vogel, friss oder stirb!» auf einen gefährlichen Weg ein. Viele meinen und offenbar auch Bundesberner Polit-Akteure, die Schweiz sei Mitglied des Binnenmarkts. Nein, ist sie eben nicht. Aber der bilaterale Anschlusskurs zwingt das Land praktisch zu einer Schein-Schwangerschaft. Und dieser Weg ist falsch. Das misslungene Rahmenabkommen präsentiert die Quittung für den nicht gangbaren Weg. Ein zusätzliches Indiz für die verfahrene Ausgangslage ist der Anspruch des Bundesrates, mit der EU-Kommission nicht über die Souveränitätsfrage sprechen zu wollen. Als unbedarfter Staatsbürger fragt man sich, was da vorgeht, in den aktuell exekutierenden Köpfen. Selbst der ehemalige FDP-Bundesrat Johann Schneider-Ammann sowie der FDP-Aargauer Ständerat Thierry Burkart stellen unmissverständlich fest, dass der vorliegende Entwurf für das Rahmenabkommen zu einer unter dem Strich zwingenden EU-Rechtsübernahme führt und die abschliessende, alles entscheidende Stellung des EU-Gerichtshofs bei der Rechtsauslegung nicht mit dem schweizerischen Verständnis und Verlangen nach Souveränität (Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit) und Demokratie (Volksrechte) vereinbar sein kann.
Mit Blick auf den Brexit-Deal - ohne hier den von EU-Befürwortern panisch in Abrede gestellten «1:1-Vergleich CH-UK» gedankenlos zu bemühen - müsste die Schweiz sich auch endlich mal klar werden, zu welchem Preis sie mit dem EU-Binnenmarkt Handel treiben will. Grossbritannien hat nicht mehr den uneingeschränkten Binnenmarktzutritt, dafür aber die Kontrolle über die Gesetzgebung, Landesgrenzen, Zuwanderung und Wirtschafts-Handels-Politik. Mit Blick auf die «reine Franken-und-Rappen-Rendite» wäre die politische und demokratische Selbstaufgabe der Schweiz unter Umständen nützlich. Oder könnte es sein, dass etwas weniger Schein-Mitgliedschaft dafür mehr politische und demokratische Handlungsfreiheit zum Beispiel bei der Gestaltung der Zuwanderung, des Lohnschutzes, der Umwelt-, Energie-, Handels-, Subventions- und Wettbewerbspolitik erfolgsversprechender wäre?
Und vor allem müssen die Erpressungsregimes durch demokratiefeindliche «Guillotineklauseln» aufhören. Solche Klauseln sind die Instrumente des Kolonialherren über die Versklavten.
Da der Binnenmarkt das eigentliche Herzstück der EU ist (vier Freiheiten!), müsste denkrichtig der Beitritt der Schweiz zur EU diskutiert werden. Will man das nicht, muss die EU-Politik neu ausgerichtet werden und zwar ohne Integration der Gesetzgebung, der Gerichtsbarkeit und Demokratie in das Binnenmarktregelwerk via Selbstaufgabe-Abkommen. Dafür muss man kein EU-Hasser sein - im Gegenteil.
Werner Gartenmann, Geschäftsführer AUNS gartenmann@auns.ch
Der vorliegende Entwurf des EU-Rahmenabkommens sieht vor, dass bei mangelnder Anpassung und Übernahme von EU-Binnenmarktrecht das Rahmenabkommen von der EU einseitig gekündigt werden kann - Artikel 22 des Abkommens. Damit fallen alle dem Rahmenabkommen unterstellten Abkommen automatisch weg. Zudem heisst es in einer Gemeinsamen Erklärung zum Abkommensentwurf, das Freihandelsabkommen von 1992 sei zu aktualisieren und dem Regime des Rahmenabkommens zu unterstellen. Damit kommt die «22er-Guillotineklausel» für die Schweiz einer Aggression gleich.
Zum Thema:
«Übungsabbruch» beim Rahmenabkommen: Das fordern immer mehr Politiker, Gewerkschafter – und auch neue Unternehmer-Komitees.
Von Niklaus Ramseyer auf https://www.infosperber.ch/politik/das-eu-rahmenabkommen-entgleitet-dem-bundesrat-zusehends/