Die EU geisselt Protektionismus als böse. Trotzdem schützt sie ihre Industrie. Anderen Ländern verbietet sie das. Der internationale Aufschrei war und ist gross, seit US-Präsident Donald Trump Strafzölle gegen den Billig-Import von Waren ankündigte. Der «freie Welthandel» sei in Gefahr, hiess es von allen Seiten. Trump liess sich nicht beirren und will Zölle, die zumindest vorläufig vor allem auf den Billig-Hersteller China zielen, tatsächlich einführen. Peking, das sich gerne als Vorkämpfer des Freihandels inszeniert, reagierte und kündigte seinerseits Strafzölle gegen die USA an. International waren die Meinungen schnell gemacht: Freihandel wäre gut und erwünscht. Doch die USA schotten sich ab, ein protektionistischer Handelskrieg breche aus.
Die ARD-Dokumentation «Spiel ohne Grenzen: Die Lüge vom freien Handel» entlarvt die westliche Welt. Sie zeigt Handel als Kampf um Wohlstand: Ein Kampf, der Verlierer und Gewinner produziert. Sie zeigt aber auch, dass es den freien Handel nie gegeben hat und auch nie geben wird. Nicht zuletzt geht sie auf die Heuchelei der EU ein: Viele EU-Länder sind erst durch Protektionismus gross geworden. Zum Schutz der Wirtschaft gönnt sich die EU noch heute Strafzölle – ein Instrument, dass sie anderen Ländern verbietet. Damit gehört die EU zu den grossen Tricksern im Welthandel. Als Resultat produziert sie Leid und trägt zu den Migrationsbewegungen bei.
Der Protektionismus der EU
Vom Hamburger Hafen aus werden deutsche Waren in alle Welt exportiert. Zusätzlich ist er Einfallstor für Produkte aller Art. Pro Jahr erreichen Hamburg rund neun Millionen Container, die meisten der angelieferten Waren stammen aus China.
Was in die EU kommt, wird verzollt. Autos aus Asien oder den USA zum Beispiel mit zehn Prozent, Kleidung mit 12 Prozent. Für Smartphones existiert dagegen gar kein Einfuhrzoll. Diese wenigen Beispiele machen es deutlich: Zoll ist kompliziert. Es gibt tausende sogenannte Zollrichtlinien mit zahllosen Varianten – und noch weit mehr Schlupflöchern.
Ein Beispiel: Die Geschäfte des Fahrradherstellers Merida & Centurion GmbH laufen gut. Die deutsche Qualitätsmarke bezieht ihre Fahrradrähmen aus China, lackiert und aufgebaut werden sie in Taiwan. In Deutschland werden die Räder nur noch fertig zusammengebaut und kontrolliert. Bei der Einfuhr kostet so ein Rad 15 Prozent Zoll. Käme das Rad aber direkt aus China, wären 48.5 Prozent Strafzoll fällig.
Der satte Strafzoll wird mit den billigen Produktionskosten in China begründet. Auch weil das Land die Fahrradproduktion subventioniert, könnte China mit seiner Kapazität von 100 Millionen Fahrrädern im Jahr die ganze Welt überschwemmen – wäre da nicht der Strafzoll. Diese schützt die europäische Industrie vor der billigen Konkurrenz im Ausland. Das ist Protektionismus.
Um die teuren Strafzölle zu umgehen, haben die Importeure den Umweg über Taiwan installiert. Das Rohmaterial stammt zwar immer noch aus China, da es aber in Taiwan bearbeitet wird, fallen keine Strafzölle an. Das ist das Schlupfloch. Als die EU damals den Strafzoll für Fahrräder aus China verhängt hatte, kamen sie plötzlich aus Kambotscha, Malaysia, Indonesien und aus anderen Ländern. Also wurden auch diese neuen «Herkunftsländer» mit Strafzöllen belegt. Dann exportierte plötzlich Taiwan. Resultat: Ein neuer Strafzoll. Chinas Industrie versucht es auf allen Wegen, die Gesetzgebung der EU hinkt hinterher. Aktuell exportiert Chinas Fahrradindustrie vor allem Fahrradteile und umgeht damit die unliebsamen Strafzölle.
Insgesamt verhindern 53 Strafzölle der EU, dass chinesische Importe nicht den Markt fluten. Es gibt sie für Stahl, für Keramik, sogar auf Bügelbretter werden sie erhoben. Diese Anti-Dumping-Zölle sind von der Welthandelsorganisation (WTO) gedeckt. Protektionismus blüht – auch in der EU.
USA verliert, Deutschland gewinnt
Wie es aussieht, wenn zum Beispiel die Fahrradindustrie nicht mit Strafzöllen geschützt wird, zeigen die USA. Seit einigen Jahren verkauft die ehemals so stolze heimische Fahrradindustrie beinahe nur noch Velos, die in China hergestellt wurden. Mangelns protektionistischem Schutz hat das Preisdumping von China viele Arbeitsplätze in den USA gekostet.
Aber auch Deutschland sei mitverantwortlich, dass die USA wirtschaftliche Probleme hätten, sagt Heribert Dieter von der Zeppelin Universität Friedrichshafen in der ARD-Dokumentation. «Deutschlands Exportprodukte verkaufen sich nicht nur deshalb so gut, weil sie spitze sind, sondern auch, weil in Deutschland die Löhne nur moderat steigen und der schwache Euro die Produkte verbilligt.» Darüber rege sich Donald Trump auf – und damit habe er nicht einmal unrecht. «Deutsche Überschüsse heissen Defizite in anderen Ländern», erklärt der Professor. «Deutschland erwartet, dass der Rest der Welt sich bei ihm verschuldet. Trotzdem kritisiert es den Rest der Welt gerne dafür, dass sie zu hohe Schulden machen.»
Tatsächlich ist der globale Handel vor allem für Deutschland lukrativ. Das Land exportiert (wie auch die EU und China) mehr, als es importiert. Die USA importieren dagegen viel mehr, als sie exportieren. Auf Dauer kann das nicht gutgehen. Aber, so ist der Handel: Das Minus der Einen ist das Plus der Anderen.
Die EU knechtet Drittweltländer
Auf dem globalen Markt sind die Spielregeln einfach: Gefertigt wird, wo es am wenigsten kostet. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Arbeitsplätze, auch Sozial- und Umweltstandards sind international viel schwieriger umzusetzen als auf dem heimischen Markt. Dazu kommt die Verhältnismässigkeit zwischen Gewicht und Wert: Ist es wirklich sinnvoll, jedes noch so kleine und günstige Produkt auf einem langen Weg zu transportieren?
Billigproduktionen haben bei Weitem nicht nur in den USA hunderttausende Arbeitsstellen gekostet, hier können die Auswirkungen aber besonders gut beobachtet werden. Vor allem im Hinterland schlossen Fabriken ihre Türen und wanderten ins Ausland ab. Diese Vorgänge haben ganze Landstriche entvölkert. Im globalen Markt können Arbeitnehmende rasch zu Verlierern werden.
Weitere Verlierer sind die Länder der Dritten Welt. Daran ist auch die EU Schuld. Die Strafzölle, die sie sich gönnt, gewährt sie anderen Ländern nicht. Das zerstört die Märkte in der Dritten Welt. So etwa in Kamerun, wo sich viele Einwohner ihren Lebensunterhalt mit dem Anbau von Zwiebeln verdienen. Nun müssen viele dieser Menschen, die ihren Zwiebelabbau oft in Dorfkooperativen organisiert haben, auf andere Produkte umstellen. Der Grund sind billige Importzwiebeln aus Europa.
Eigentlich müsste Kamerun den Importzoll auf Zwiebeln erhöhen. Nur – das geht nicht. Seit der neue Freihandelsvertrag (EPA) mit der EU gilt, ist die Erhöhung von Importzöllen verboten. So fahren nun jeden Tag unzählige Lastwagen auf die afrikanischen Märkte. Sie bringen billige Zwiebeln aus den Niederlanden und berauben die einheimischen Produzenten ihrer Lebensgrundlage. Auch viele andere Produkte fluten die afrikanischen Märkte. Etwa chinesischer Knoblauch. «Wir haben doch keine Chance», sagt Yvonne Takang, Konsumentenschützerin aus Kamerun, in der ARD-Dokumentation. «Wir brauchen Zeit, zunächst die heimische Wirtschaft aufzubauen. Dann erst können wir unsere Märkte für die Welt öffnen.»
Es ist die europäische Überproduktion, die in Afrika Märkte zerstört. Mit ihren Freihandelsverträgen verweigern die Europäer den Afrikanern, was diese eigentlich dringend brauchen: Schutz der Landwirtschaft und der Industrie, die gerade erst zu wachsen beginnt.
Europäische Hühnerabfälle zerstörten Lebensgrundlagen
Ein weiteres Beispiel für die Auswüchse des freien Markts ist die Hühnerproduktion. Seit Jahrzehnten werden Hühnerteile, die in Europa niemand will, von europäischen Konzernen nach Afrika exportiert.
Schiffsladungen mit Pouletteilen aus ganz Europa und den USA vernichten die traditionelle Geflügelzucht in Westafrika. Eine Reportage, welche die NZZ am 17. September veröffentlichte, zitiert Angaben des nigerianischen Geflügelverbandes: Trotz eines Importverbots für Fleisch wird Jahr für Jahr solch subventioniertes Fleisch im Wert von drei Milliarden Dollar vor allem über das Nachbarland Benin nach Nigeria geschmuggelt. Ohne dieses Fleisch könnten in Nigeria rund eine Million Arbeitsplätze auf Farmen, in der Futterindustrie und in anderen Berufen entstehen.
Schliesslich handelte etwa Kamerum protektionistisch und verhängte ein Importverbot für Hühnerteile. Seitdem geht es wieder aufwärts. Mit neuen Hühnerzuchten kamen neue Arbeitsplätze. Es kamen Konsumenten, die sich Güter leisten konnten. Die Wirtschaft wurde angekurbelt. Das zeigt, dass Aussenschutz funktionieren kann. Nur kann ihn zum Beispiel Kamerun nicht mehr anwenden: Andere Agrarprodukte können nach Abschluss der Freihandelsverträge mit der EU nicht mehr ausreichend geschützt werden.
Es war Francisco Mari von «Brot für die Welt», der vor rund 15 Jahren publik gemacht hatte, wie der europäische Handel mit Hühnerabfällen die afrikanischen Märkte zerstörte. Er hält die Freihandelsverträge, die die EU den afrikanischen Ländern aufzwingen will, für einseitig und längst nicht mehr zeitgemäss. «Sie haben keinen Vorteil für diese Länder», sagt er gegenüber ARD.
Die Heuchelei im Welthandel
Dabei ist etwa Deutschland – wie alle Industrienationen – erst gross geworden, weil sich das Land am Anfang selber massiv gegen die Konkurrenz von Aussen geschützt hatte. Schon im Kaiserreich machte Otto von Bismarck die Grenzen dicht und versperrte so russischem Holz und Getreide den Marktzugang. Auch die Engländer schützten sich. Sie erfanden das Label «Made in Germany», um die Billigware aus Deutschland identifizieren zu können.
Heribert Dieter sagt gegenüber ARD: «Länder predigen den freien Handel, wenn sie selber besonders wettbewerbsfähig sind. Sie predigen ihn für diejenigen Sektoren, in denen sie wettbewerbsfähig sind. In den übrigen Bereichen lassen sie den Protektionismus durchaus zu. Zum Beispiel im europäischen Agrarhandel.»
Ein Beispiel dafür, ist die Schweiz. Bauernpräsident Markus Ritter sagt gegenüber ARD: «Wenn der Handel frei über alle Grenzen hinweg wäre, dann wäre eine Lebensmittelproduktion in der Schweiz aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht mehr sinnvoll.» Das heisst: Die Lebensmittelproduktion würde an diejenigen Orte verlagert, an denen am billigsten produziert werden kann.
Damit die Schweizer Landwirtschaft mit den europäischen Nachbarn mithalten kann, installierte die Schweiz ein flexibles Zollsystem. So kosten etwa Erdbeeren bei der Einfuhr drei Franken Zoll pro hundert Kilo. Während der heimischen Erntezeit kostet die gleiche Menge allerdings 510 Franken. Dasselbe bei den Zwiebeln. Pro hundert Kilo zahlt der Importeur knapp drei Franken. Während der Erntezeit werden für die gleiche Menge 126 Franken fällig. Kalbfleisch kostet innerhalb einer festgelegten Einfuhrmenge 109 Franken Zoll. Wer mehr importieren möchte, zahlt stolze 2900 Franken für 100 Kilo Fleisch.
Das kommt einem Einfuhrstopp gleich und ist Protektionisimus pur. Davon profitiert die heimische Wirtschaft, Arbeitsplätze werden geschützt. Anders wären die Bauern im eigenen Land nicht konkurrenzfähig. Zusätzlich können dadurch Umweltstandards, artgerechte Tierhaltung und Landschaftsschutz garantiert werden. Ohne Protektionismus wäre das undenkbar.
Europa macht es ähnlich. Die heimische Landwirtschaft wird mit mehr als 60 Milliarden Euro im Jahr gestützt. Eine Folge davon ist die Überproduktion von Milch und Schweinefleisch, das dann günstig nach China und in andere Länder exportiert wird. So machen es auch die USA. Sie subventionieren ihre Landwirtschaft massiv, ihre milliardenschweren Agrarkonzerne exportieren in alle Welt. Die Verlierer: Kleinbauern im armen Süden.
Die Kluft wird immer grösser
Der freie Handel bringt vielen Menschen Wohlstand, aber er vergrössert auch die Kluft zwischen armen und reichen Ländern. Die westlichen Länder müssen den nötigen Protektionismus – von dem sie selber jahrzehntelang profitierten und den sie noch immer anwenden – auch in Afrika zulassen. Das hiesse: Fluchtursachen bekämpfen.
Quelle: https://www.infosperber.ch/Artikel/Wirtschaft/Die-Luge-vom-freien-Handel