Die Medien überdrehen. Die Politik masst sich alles an. Die Intellektuellen stimmen in den Mainstream ein. Auf der Strecke bleiben die realistischen Gegenstimmen im Angesicht der Corona-Pandemie.
Von Georges Bindschedler*, NZZ vom 17. April 2020, mit Dank an den Autor für die Publikationsrechte
Wollt ihr denn ewig leben? Diese Frage stellte Friedrich der Grosse im Jahre 1757 seinen Soldaten in der Schlacht von Kolin, als sie vor dem Feind wichen. Man ist geneigt, sich dieselbe Frage erneut zu stellen angesichts des diskutablen Verhältnisses zwischen Corona-Kranken und -Verstorbenen einerseits und der Gesamtbevölkerung sowie der Anzahl von an üblichen Krankheiten Leidenden anderseits. Manches scheint hier – buchstäblich – ver-rückt zu sein. Aber auch die Kollateralschäden der Seuchenbekämpfung mit ihrer mutwilligen Inkaufnahme der Zerstörung der Wirtschaft provozieren dieselbe Frage.
Der sich selbst verstärkende Medienzirkel
Die Medien kennen seit Wochen nur ein Thema: das kleine Ding, genannt Coronavirus. Sie treiben die Politik vor sich her. Diese überbietet sich mit primären drastischen Massnahmen und darauffolgenden sekundären Massnahmenpaketen, die die Nebenwirkungen der ersten Massnahmen abmildern sollen. Dies wiederum steigert die Medienberichterstattung zu einem monothematischen Tsunami, denn jetzt gibt es richtig was zu berichten: Man dramatisiert, spekuliert, liefert Betroffenheitsprosa, spricht von Krieg, vergleicht die gegenwärtige Situation mit den mittelalterlichen Pestepidemien.
Die Krise wird damit wirklich zur Katastrophe, zur Selffulfilling Prophecy. Wer Augenmass bewahrt, gilt wahlweise als Verharmloser oder Leugner, und wer differenziert, wird als «terrible simplificateur» hingestellt. Die Tragik des Geschehens muss gefeiert werden. Schiller hat treffend für solche Situationen gedichtet: «Der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.»
Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.
Benjamin Franklin
Die Regierungen verordnen immer mehr Einschränkungen der Bewegungs- und Wirtschaftsfreiheit, um die Menschen vor dem Virus in Sicherheit zu bringen. Sicherheit vor der Seuche wird aber erkauft mit wirtschaftlichem Ruin, Armut und Arbeitslosigkeit, führt also zu allem anderen als zu einer sicheren und stabilen Existenz. «Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren», hat Benjamin Franklin geschrieben.
Die selbstgenerierte Not
Die drastischen Freiheitsbeschränkungen sind nur mit Notrecht möglich. Notrecht verleiht den Regierungen eine Macht, die ihnen demokratische Prozesse verwehren, weshalb sie es intensiv und über möglichst lange Zeit anwenden wollen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galten in der Schweiz einzelne Notrechtsregelungen bis 1952, die nur mit Volksinitiativen aufgehoben werden konnten. In der Zwischenkriegszeit herrschte in der Weimarer Republik in irgendeiner Form praktisch ununterbrochen Notrecht, es mutierte zum Machtmissbrauch mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten und wurde so zur Normalität mit den uns bekannten verheerenden Folgen. In Abwandlung eines Diktums von Carl Schmitt: Mächtig ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Fragwürdig ist die Legitimation des Notrechts in jedem Fall. Dies gilt umso mehr, je häufiger es angerufen, je schematischer es angewendet wird wie beispielsweise bei den willkürlichen und unterschiedslosen Geschäftsschliessungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Fraglich ist das Notrecht jedoch definitiv dann, wenn es zweckentfremdet wird, wie das jetzt zu geschehen droht. Es wird zur bloss situativ und willkürlich verhängten Unterdrückungsmassnahme.
Das Notrecht dient kurzfristig allen Politikern, alle wollen die Gunst der Stunde und das Notrecht für ihre Zwecke ausnutzen und missbrauchen: die Gutmenschen, die Bürgerlichen, die Grünen, die Roten. Das Notrecht wird nie wirklich aufgehoben, seine «bewährten» Teile werden ins «ordentliche» Recht übergeführt, und die Regelungsdichte wird erhöht, was dann euphemistisch als Ausstieg aus dem Notrechtsregime bezeichnet wird.
Der sich selbst überschätzende Mensch
Dass wir in angeblich guter Gesellschaft mit fast allen Regierungen dieser Welt sind, macht es nicht besser. Dreissig Jahre nach der im Vergleich dazu harmlosen sogenannten Fichenaffäre sind bevölkerungsweite Kontrollmassnahmen absehbar.
Die Bewegungen der Menschen werden bereits im Auftrag des Staates von Google und den Swisscoms dieser Welt aufgezeichnet und überwacht, elektronische Fuss- beziehungsweise Armfesseln werden eingeführt, Apps, die ja «nur» die Gesundheit überwachen sollen, werden entwickelt und vermutlich bald obligatorisch eingeführt. Ohne Gesundheitsnachweise werden Grenzübergänge in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr möglich sein, polizeiliche Überwachung durch Drohnen wird zum Alltag gehören und schleichend zum modernen totalen Überwachungsstaat führen. Haben wir uns so die Befreiung vom Ancien Régime vorgestellt?
Die Selbstüberschätzung des Staates beruht auf der Selbstüberschätzung menschlicher Möglichkeiten und also des Menschen.
Georges Bindschedler
Die Selbstüberschätzung des Staates beruht auf der Selbstüberschätzung menschlicher Möglichkeiten und also des Menschen. Am finanziellen Turm zu Babel, dessen Bau lange vor der Finanzkrise 2008 begann, mit dieser aber eine gewaltige Steigerung in schwindelerregende Höhen erfuhr und heute mit den Wirtschaftsprogrammen zum Reset der Wirtschaft noch übertroffen wird, wird weitergebaut. Dieser politisch-wirtschaftliche Machbarkeitswahn, der alle Unbilden des Lebens, Seuchen, Rezessionen, das Klima zu beherrschen glaubt, ist mehr als fragwürdig, hat es der «allmächtige» Staat doch nicht einmal vermocht, frühzeitig auf die lange bekannte Bedrohung durch das Coronavirus zu reagieren.
Wie reagieren wir in zwei Jahren beim nächsten «unbekannten» Virus? Mit einem weiteren zerstörerischen Lockdown? Was können wir noch tun, wenn die Wirtschaft nicht mehr anspringt?
Die Zentralbanken sind am Ende ihres Lateins, dem hochverschuldeten Staat wird das Geld ausgehen, denn Steuern fliessen nur, wenn die Wirtschaft produktiv arbeitet. Kommen dann konfiskatorische Massnahmen, verharmlosend Haircuts genannt? Der Staat handelt in Umkehrung von Mephistopheles’ Worten zu Faust so, dass er stets das Gute will und das Böse schafft.
«Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.» Dieser bereits ein wenig abgegriffene Satz Hölderlins mag uns daran erinnern, dass Einsicht in das wirklich Rettende möglich ist, sofern unbequeme und kritische Fragen gestellt und aus Bequemlichkeit nicht einfach ausgeblendet werden.
Akzeptieren wir, dass der Mensch sterblich ist, ein langes Leben nicht per se Ziel sein kann, dass Wohlstand auf produktiver Arbeit – und nicht auf das Leben erstickender Bürokratie – beruht, dass auf sieben fette auch sieben magere Jahre folgen können und Letztere die Chance zur Erneuerung bedeuten, dass dem politischen Handeln Grenzen gesetzt sein müssen, da es sonst zum Machtmissbrauch und zum Crash führt.
Befreien wir uns aus der globalen scheinbar alternativlosen Gedankenblase. Stören wir den globalen Mainstream. Verhelfen wir einem erfahrungsgesättigten Realitätssinn zum Durchbruch, um unser Leben wieder in Freiheit zu gestalten. Nicht nur das Virus, auch die virale Zerrüttung der «forma mentis» kann nicht früh genug bekämpft werden.
* Georges Bindschedler ist promovierter Jurist, Verwaltungsratspräsident der SMH Verlag AG («Schweizer Monat») und Unternehmer in Bern.