Interview mit Marco Chiesa, Nationalrat SVP Tessin, lic. rer. pol., Mitglied der Aussenpolitischen Kommission (APK).
«Die Einwanderung verhält sich im Grunde wie das Wasser. Wenn wir es kanalisieren und steuern, wird es zu einer wertvollen Ressource. Lassen wir es jedoch unkontrolliert fliessen, wird es sich in einer gewaltigen Überschwemmung über die Bevölkerung und das Land ergiessen.»
Herr Nationalrat, wer wird der Nachfolger des Bundesrats Didier Burkhalter, ein Unterstützer der EU aus dem Tessin?
Ein Tessiner Bundesrat, der tatsächlich die Absicht hat, die Stimme meines Kantons nach Bern zu tragen, kann in erster Linie kein überzeugter EU-Befürworter und keine Marionette Brüssels sein. Es wäre völlig abwegig, nach so vielen Jahren der Abwesenheit im Bundesrat einen Tessiner Sitz zu erzwingen und einen Vertreter wählen zu lassen, der den Willen der Tessiner Bevölkerung nicht wiedergibt. Ich wünsche mir, dass das Kandidatenkarussell für meinen Kanton nicht zu einer Alibi-Übung verkommt. Ja zum Tessin im Bundesrat, aber nicht um jeden Preis!
Sie sind seit 2015 Mitglied des Nationalrats. Können Sie eine Zwischenbilanz ziehen?
Die persönliche Bilanz ist überaus positiv. Ungeachtet der anfänglichen Schwierigkeiten, die insbesondere mit der Sprache und den institutionellen Mechanismen der beiden Kammern zu tun hatten, habe ich mich dank der Tatsache, dass die Parlamentsfraktion der SVP einen sehr guten Zusammenhalt hat, sofort wohl gefühlt. Die politische Bilanz ist hingegen ziemlich enttäuschend. In der Wintersession 2016 haben sich all meine Hoffnungen und mit ihnen die vieler Tessiner, die Masseneinwanderung und ihre schwerwiegenden Folgen für den Arbeitsmarkt zu bremsen, in Rauch aufgelöst.
In der Frühjahrssession wurde eine ihrer Initiativen abgelehnt, die den Bundesrat aufforderte, dem Einsatz von Swisscoy in Kosovo ein Ende zu setzen. Die militärischen Ressourcen, die dadurch frei würden, sollten zur Verstärkung der Grenzwacht eingesetzt werden. Ist der Einsatz der Armee an unseren Grenzen wirklich nötig?
Der Kanton Tessin ist eine Grenze, die oft einem starken Druck von Zuwanderungsströmen ausgesetzt ist, die in den Mittelmeerländern ihren Ursprung haben. Wenn ich Jahr für Jahr sehe, wie sich die Lage verschärft und welche Schwierigkeiten Italien im Umgang mit der Immigration hat, frage ich mich, warum man gut 17 Jahre nach dem Einsatz im Kosovo nicht Mittel und Ressourcen unseres Landes für unsere Bevölkerung bereitstellt. Es ist erforderlich, unsere Grenzwacht von ihren aufwendigen logistischen Aufgaben zu entlasten. Mit der Ablehnung dieses Antrags haben wir eine Chance vertan.
Die Bundesrätin Sommaruga beschwichtigt und behauptet, alles sei in Ordnung … Wie ist die Lage im Tessin konkret? Ist der Tessin auf sich allein gestellt?
Dank dem Grenzwachtkorps (GWK), welches von GWK-Angehörigen «jenseits des Gotthards» unterstützt wird, konnte die Südgrenze auch in Zeiten verstärkten Drucks angemessen und flexibel bewacht werden. Diese zusätzlichen Kräfte haben sich als wirksame Unterstützung für die Tessiner Grenzwacht erwiesen. In diesem Sinn hat Bundesrat Ueli Maurer eine verdienstvolle Arbeit geleistet. Aber das gilt nicht für den Gesamtbundesrat. Denn wer im Bundesrat eine ideologisch eingefärbte Einwanderungspolitik mit Vehemenz unterstützt, die für das politische Establishment vielleicht politisch korrekt, aber wenig konsequent ist, handelt nicht im Interesse unseres Landes.
Aufgrund des freien Personenverkehrs mit der EU haben wir eine unkontrollierte und belastende Netto-Einwanderung von durchschnittlich 65'000 Personen jährlich. Mitte Dezember 2016 hat die Mehrheit des Parlaments praktisch beschlossen, den Verfassungsartikel über die Initiative gegen die Masseneinwanderung nicht anzuwenden. Der Bundesrat hat kürzlich diese Nichtanwendung mit seinem Durchführungsbeschluss, der mit dem Willen des Souveräns absolut nichts zu tun hat, bestätigt. Die AUNS hatte unverzüglich verlangt, durch eine Volksinitiative die Souveränität in Sachen Einwanderung wiederherzustellen. Teilen Sie diese Forderung?
Ich teile sie nicht nur, sondern halte sie für sakrosankt. Die Einwanderung verhält sich im Grunde wie das Wasser. Wenn wir es kanalisieren und steuern, wird es zu einer wertvollen Ressource. Lassen wir es jedoch unkontrolliert fliessen, wird es sich in einer gewaltigen Überschwemmung über die Bevölkerung und das Land ergiessen. Es ist das, was gerade in der Schweiz geschieht, und vor allem im Tessin, wo die einheimischen Arbeitnehmer Mühe haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Sie leiden unter dem Lohndumping und sind ernsthaft um ihre Zukunft besorgt.
Zerstören wir nicht den bilateralen Weg, wenn wir den freien Personenverkehr zur Diskussion stellen?
Ich bin dafür, dass unser Land mit der Europäischen Union Vereinbarungen trifft, die für beide Seiten von Vorteil sind, und ich betone: für beide Seiten. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir bei einem fundamentalen Grundsatz wie der autonomen Handhabung der Einwanderung nicht nachgeben können. Wenn ein Unbekannter an der Haustür klingelt, haben wir als die Hausherren das Recht zu entscheiden, ob wir ihn hereinlassen oder nicht. Das muss auch gelten, wenn es um unsere Heimat geht.
Vor 25 Jahren, am 6. Dezember 1992, wurde der Anschluss an den Europäischen Wirtschaftsraum abgelehnt. Damals hatten Sie die Gelegenheit, zum ersten Mal an einer Bundesabstimmung teilzunehmen. Welche Erinnerungen haben Sie an dieses historische Wochenende?
Ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit. In meinem Kanton war die charismatische Persönlichkeit von Christoph Blocher sehr präsent und das Thema wurde unter den Studenten lebhaft diskutiert. Es war das erste Mal, dass ich wählen durfte. Ich habe für NEIN gestimmt. Wer wie ich diesen EU-Anschluss ablehnte, wurde bereits damals schief angesehen. Die intellektuellen Eliten hatten sich klar für die EU entschieden. Glücklicherweise hat sich das Schweizer Volk als weiser erwiesen!
Die Eidgenossenschaft wird bald ihren 726. Jahrestag feiern. Was bedeutet für Sie das Vaterland?
Vaterland ist, wo ich meine Wurzeln habe, es ist die Erde meiner Väter. Es ist mein Haus und das meiner Kinder.